Montag, 28. September 2009

Tag 164 - Hey Mr. Tambourine Man

Eines der krassesten Vorurteile der Briten gegenüber den Deutschen ist David Hasselhoff. Wirklich jeder hat mich bisher gefragt, warum dieser Alkomat in Deutschland so beliebt ist. War es Knight Rider? Baywatch? Seine… äh… Musik? Ich kann mich erinnern, dass er eine Zeit lang immer auf der Titelseite der BRAVO war und meine Mitschüler ihn David Haselnuss nannten. Muss so Mitte 90er gewesen sein. War glaub gerade aus der Grundschule raus. Aber warum haben alle über ihn geredet? Momentan sitzt er ja in der Jury von America’s got Talent. Wobei die Tatsache, dass ich das weiß, so ein bisschen das Vorurteil bestätigt. Verdammt! Okay, dass alles rund läuft ist dann doch nicht ganz so richtig. Gelegentlich eiert mein Leben hier ein wenig, was aber der Aupair-Job einfach mit sich bringt. 24/7 mit Kindern zusammenleben ist Nervenprobe. Manchmal so sehr, dass ich schon mal gegoogelt hab, in welchem Alter ich mir die Eierstöcke abbinden lassen darf: Nur noch fünfeinhalb Jahre.

Jeden Tag lassen sich die kleinen Teufel etwas Neues einfallen. Ein friedliches und durchstrukturiertes Leben? Wie langweilig ist das denn? Und immer wenn man denkt, alles läuft prima, dann machen sie plötzlich Schwierigkeiten. Zum Beispiel wacht der Kleine morgens auf und beschließt einfach, nicht mehr in die Schule zu wollen. Dabei war in den Wochen vorher alles prima. Morgens rannte er als einer der Ersten durch das Tor und wenn ich ihn abholte, dann konnte er sich kaum trennen. Und dann steht man da und ist plötzlich in einen auslaugenden Kampf verwickelt, in dem man sowieso von Anfang an als Sieger dasteht. Kind, ICH sitze am Hebel! Und Kind weiß das eigentlich, hat aber gerade einfach Lust auf Ärger. Eine gefühlte Ewigkeit später: Kind rennt glücklich durch das Schultor als wäre nicht gewesen. Ich dagegen fühle mich müde. Schrecklich müde. Aupairbeben sind kurze aber heftige Gewitter, die sich auf die Kinder entladen, wenn sie den Bogen überspannen. Mein Geduldsfaden fängt morgens nach dem Aufwachen recht dünn an, wird aber je nach Menge des Kaffees am Morgen und Vormittag ziemlich dick und hält so auch meistens den ganzen Nachmittag bis zum Abendessen. Danach wird es schon ein wenig faseriger, geht aber gut bis die Kinder ins Bett gepackt sind. Mein Faden stellt sich dann auf Ruhe ein. Wird ihm diese nicht gegönnt, dann muss er leider reißen. Die häufigsten Aupairbeben gibt es demnach früh am Morgen oder abends. Letzter Anlass war der kleine sture Junge, der mir nach dem Aufstehen ganze zehn Minuten ohne Pause ins Ohr brüllte „I wanna watch TV! I wanna watch TV! I wanna watch TV!“ Ich hasse cholerische Menschen, und als ein solcher würde ich mich auch nicht bezeichnen. Aber ich kann mir nicht mehr alles gefallen lassen. Und da ich nicht unfair werde, kommen die Kids auch ganz gut klar damit, wenn ich am Toben bin. Sobald ich abebbe, suchen wir zusammen systematisch nach einer Lösung des Problems, und siehe da, plötzlich wird kooperiert. Wenn es ganz doll war, finde ich kurze Zeit später kleine Sorry-Briefchen auf meinem Bett und „You are the best Opar in the world“-Zettel. Wirklich anstrengend, sind die Kleinigkeiten jeden Tag. Verweigerungen und Zornanfälle (jaja, die lieben Vierjährigen). Auch das Bettnässen, arrgh, und das Chaos, das die Zwerge wirklich überall hinterlassen. Obwohl sie da auch ein wenig von der Mutter geprägt sind. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so chaotisch ist, wie Mummy. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft sie am Tag ihre Autoschlüssel sucht. Manchmal verschwinden Gegenstände, um dann mysteriös an komplett anderen Stellen wieder aufzutauchen. Ich sag nur, Rasierer auf der Mikrowelle. Manchmal komm ich vom College heim und denke Einbrecher seien hier gewesen, weil alle Schubladen ausgekippt sind. Aber nee, es war Mummy, die an zehn Stellen gleichzeitig anfangen wollte aufzuräumen, dann aber keine Motivation mehr hatte und es auf den nächsten Tag verschob. Jedes Mal wenn sie einkaufen geht, bringt sie einen Kohlkopf mit um Kohlsuppe daraus zu kochen. Jedes Mal! Und jedes Mal finde ich den vertrockneten oder verschimmelten Kohl im Kühlschrank und werfe ihn weg. Kein Witz, aber in den letzten fünf Monaten hab ich bestimmt schon zwanzig Kohlköpfe weggeschmissen. Und trotzdem liegt immer wieder ein Neuer da. Ich glaube der Griff ins Kohlkopfregal im Supermarkt ist schon zu sehr Routine. Ich koch jedenfalls keine Suppe draus, ich kann das nicht riechen. Ausgehen mit der Family ist auch anstrengend. „Okay, es geht los, alle ins Auto!“, ruft Mummy dann immer… hat aber den Schlafanzug noch an. Das heißt, es dauert minimum eine halbe Stunde bis sie umgezogen, gewaschen und geschminkt ist. Ich setze mich mit den Kindern ganz langsam ins Auto, schnalle sie an und wir spielen „I spy with my little eye“ „Wir gehen!“, ruft Mummy dann und schüttet Milch über ihr Müsli. Mit der anderen Hand mischt sie ein wenig Banane mit Joghurt für die Kinder. Ich packe die Kinder wieder aus dem Auto, sie essen ihren Joghurt. „Alles klar, los geht’s!“, ruft Mummy dann und ich lasse die Kinder wieder ins Auto klettern, schnalle sie an, schlichte Streit. Wo bleibt Mummy? Sie hat gerade den Wasserkessel angeschaltet und macht sich einen Tee. Die Kinder werden ein wenig zappelig. Mummy hat ihren Tee leergetrunken und schwenkt die Tasse in der Spüle aus. „Sorry! Sorry!“, ruft sie, lässt sich auf den Fahrersitz fallen und sortiert ihre Haare im Rückspiegel. „Ich muss aufs Klo!“, kräht die Große. Ich schnalle mich wieder ab, steige aus, öffne die hintere Tür, lasse das Mädel aussteigen. Schließe die Haustür auf. „Mir ist kalt! Ich brauch eine Jacke!“, brüllt der Kleine, ist auch schon über den Beifahrersitz geklettert und rennt seiner Schwester hinterher. Oben höre ich sie nach zwei Sekunden aufs übelste streiten. Stampfe die Treppe hinauf und schimpfe. Die Kinder sind fertig, ich lasse sie wieder ins Auto einsteigen. Mummy ist verschwunden. Ich schließe die Haustür wieder auf und rufe. Mummy ist im Garten und hängt Wäsche ab. Schließlich sitzt sie wieder auf dem Fahrersitz und sortiert noch einmal ihre Haare im Rückspiegel. „Alle fertig?“ Ich brumme nur zustimmend und warte auf das Anlassgeräusch. Nichts passiert. „Wo ist der Autoschlüssel?“ Mummy schaut suchend hin und her, öffnet und schließt das Handschuhfach vor meinen Knien, durchsucht die Ablagen. „Bestimmt auf dem Tisch.“ Mummy schnallt sich ab, steigt aus, schließt die Haustür auf. Ich sehe den Autoschlüssel auf dem Fahrersitz. Sie saß drauf. Ich schnalle mich ab, steige aus, rufe Mummy von der Haustür aus. Sie suche nur noch eben ihre Sonnenbrille, ruft Mummy. Ich seufze, drehe mich um und renne fast den Kleinen über den Haufen, der wieder über den Beifahrersitz geklettert ist. Kind wieder verstaut, Mummy ist fertig. Alle sind angeschnallt, fertig zur Abfahrt. Mummy dreht den Schlüssel im Zündschloss. KLICK Autobatterie leer. Ich fühle mich müde. Sehr müde. Es ist keine Übertreibung. Murphy’s Law wurde extra für Mummy erfunden und jedes Mal wenn ich etwas mit ihr und den Kindern vorhabe, geht etwas schief. Ich lass mich nicht stressen davon und seh es eher von der lustigen Seite. Gut, manchmal kann es dann doch in den Wahnsinn treiben. Ich hab dafür wundervolle Wochenenden! Am Samstag war ich bei meinem Lieblingsmusiker Allan zu einem Barbecue mit anschließender Jam-Session eingeladen. Es war so entspannend. sechs Gitarren, ein Klavier, ein Bass, jede Menge Trommeln und Tambourins… jeder machte mit. Sogar Allans Mutter. Sie ist die coolste Omi, die ich je getroffen habe. 80 Jahre ist sie alt. Sie trug eine Sonnenbrille und eine quietschrote Jacke, die mit der giftgrünen Perlenkette richtig fetzte. Chloe klopfte ihren schwarzen Gehstock im Takt auf den Boden und sang mit ihrem dünnen Stimmchen alle Songs mit. Irgendwann stimmte jemand „Amazing Grace“ an, wusste aber den Text nicht richtig. So kam Chloe auch noch zu ihrem Soloauftritt und es war absolut herzallerliebst, wie sie da an das Sofa gelehnt stand und sang. Wehe, jemand lacht! Aber ich spielte das/den/die Tambourin so gut, dass ich demnächst bei einer Acoustic Night im Pub mit auf die Bühne soll. Hey, besser als Triangel! Allan spielt wunderbaren Reggae, siehe Video… Man sieht zwar nichts, war zu dunkel, aber es hört sich klasse an. Wir haben stundenlang gejammt. Niemand war betrunken, keine Drogen, einfach nur Musik. Ich hatte eine Übernachtungsmöglichkeit bei Special Freak Friends und zusammen liefen wir schließlich nach Hause. Eigentlich wollten wir ein Taxi rufen, weil es doch eine gute Stunde Fußmarsch war, aber die Nacht war zu schön. Sternenklar und richtig spätsommerlich mild. Und während wir so liefen, fiel uns unter einer Laterne ein Bündel bedrucktes Papier auf dem Gehweg auf. Fünfzig Pfund! Zwei Zwanziger und ein Zehner. Behalten oder nicht behalten, das war die Frage. Aber was hätte man machen sollen? Zur Polizei bringen, die das dann sowieso selbst einstecken? Und nach einigem Hin und Her beschlossen wir, ohne schlechtes Gewissen ein gigantisches Stück Fleisch und eine teure Flasche Wein davon zu kaufen und am nächsten Tag einen Sonntagsbraten zu machen. Mit Röstkartoffeln und Yorkshire Pudding und frittierten Zuckerrüben. Und Bratensoße! Wenn das Glück schon vor einem liegt, dann sollte man es auch aufheben. Gesagt getan, wir hatten einen herrlichen Sunday Roast und somit gelungenen Abschluss für das Wochenende. Heute können sie mich ruhig alle wieder stressen. Mir geht’s gut. Nachtrag: Am darauf folgenden Wochenende hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen Barbecue-Gastgeber Allan und einem der Gäste, Marc. Es ging darum, dass Marc anscheinend in dieser Nacht Geld verloren hatte, das er in der hinteren Hosentasche aufbewahrte. Konnte das...? Ich mischte mich kurzerhand ein und fragte nach dem Betrag. 50 Pfund... zwei Zwanziger, ein Zehner. Ich wusste, dass Marc nicht lange vor uns losgegangen war, und diese Straßenecke auf seinem Weg lag. Kein Zweifel also. Selbstverständlich haben wir ihm die 50£ zurückgegeben und die Sache erklärt. Den Braten haben wir jetzt also doch selbst bezahlt. Marc konnte sein Glück nicht fassen und hat sofort einen Teil des Geldes in Drinks für uns alle verflüssigt. So waren alle mehr als zufrieden :-)

Donnerstag, 17. September 2009

Tag 153 - Chicken Shack

Fünf Monate. Das mit dem Linksverkehr klappt jetzt auch. Okay, Theorie sitzt zumindest. Höchstwahrscheinlich werde ich hier doch nicht überfahren, weil ich jetzt endlich zuerst erst nach rechts schaue, wenn ich eine Straße überquere. Die Praxis hatte ich kürzlich, als ich spontan mit Mummys Golf um den Block gefahren bin. Ich bin Rechtshänder. Wie zum Teufel soll ich die Gangschaltung mit der Linken ordentlich bedienen? Die Hand fühlt sich so unflexibel an. Das ist, wie wenn man nach Jahren zum ersten Mal wieder Klavier spielt und die Finger sich nicht mehr wie gewohnt bewegen lassen. Knochenrost, oder so was.

Dann kam noch der Spiegeleffekt dazu: Wo ist Gas, wo ist Kupplung? Müsste das nicht auch seitenverkehrt sein? Nein, eindeutig nicht.

Nach ein paar Runden hatte ich dann aber den Bogen raus. Juhuu, ich fahre. Wagen wieder in die Einfahrt gestellt und mir selbst auf die Schulter geklopft. Als ich dann meine Fahrt noch mal mit dem geistigen Auge durchgegangen bin, ist mir der entscheidende Fehler aufgefallen: Ich bin konsequent rechts gefahren. VERDAMMT! Gegenverkehr kam keiner und die Autos parken hier im Viertel gegen die Fahrtrichtung, warum auch immer. Und so aufs Schalten konzentriert bin ich sofort ins gewohnte Muster verfallen. Gnaa. Nächstes Mal dann.

Einen Sprachschub gab es in den letzten Wochen auch noch. Sogar Graham, mein nie lobender Teacher hat sich beeindruckt geäußert… äh ja, und auch die Neue. Sie ist echt eine Erwähnung wert. Hier ist wöchentlich Kommen und Gehen von Leuten aus der ganzen Welt… man stellt sich gegenseitig vor, geht mal einen Kaffee trinken, plaudert über dies und das, bis man sich nach ein paar Tagen oder Wochen wieder verabschiedet. Mit der gleichgültigen Gewissheit, sich nie wieder über den Weg zu laufen.

Aber manchmal saugen sich einige doch im Gedächtnis fest. Das waren bisher die Klassensprecherin… und Walpurgia.

Bevor ich zu meiner neuesten Bekanntschaft überleite, hier noch kurz die wichtige Info: Achtung, Achtung, die Klassensprecherin reist in weniger als 10 Tagen ab!

Allerdings glaube ich fest daran, dass sie mir in diesem Leben wieder begegnen wird. Irgendwas ist nicht normal mit der. Manchmal überlege ich, ob sie überhaupt existiert, oder ob sie nur ein Dämon ist, der darauf achtet, dass es mir ja nicht zu gut geht.

Wir gehen uns eigentlich ziemlich erfolgreich aus dem Weg: Meine Schultage sind Dienstag und Donnerstag, ihre sind Mittwoch und Freitag. Zu Klassentreffen werde ich nicht mehr eingeladen (Ziel erreicht!). Und trotzdem. Trotzdem taucht sie immer wieder mal hinter mir auf und bohrt mir einen langen, dürren Finger mit künstlichem Nagel in den Rücken. Pieks! Überraschung!

Vor ein paar Wochen wurde ich per Facebook zu einer Hausparty eingeladen. Facebook ist so eine Ja-ja-natürlich-bleiben-wir-in-Kontakt-aber-eigentlich-fick-dich-Alibi-Internet-Kommunikations-Plattform, bei der man sich gegenseitig mitteilen kann, wie viel man am letzten Wochenende gekotzt hat (mit Fotoalbum) und wer diesem Ereignis beigewohnt hat (du bist getagged, harr harr). Aber ganz ehrlich, ich finds toll.

Den Gastgeber dieser Hausparty war in der Friendlist eines Special Freak Friends aus meiner Friendlist zu finden. Ihn kannte ich nicht persönlich, aber ein paar der geladenen Gäste. Mit denen war ich zuvor schon ein paar Mal feiern in einem australischen Pub ganz in der Nähe meines Colleges. Konnte also nur lustig werden.

Aber was musste ich finden, als ich mich durch die endlose Gästeliste klickte? Dämon! SIE! Die Klassensprecherin!

Als mein gequälter Schmerzensschrei dann verklungen war, versuchte ich einen Zusammenhang zwischen ihr und dem Gastgeber herzustellen. Einziger Anhaltspunkt war die Nähe des australischen Pubs zum College. Ich war dort auch schon mit ein paar Collegeleuten gewesen, aber niemals mit der Klassensprecherin. Was zum Teufel? Ist die Welt so klein?

Ich will es nicht unnötig in die Länge ziehen: Die Klassensprecherin ist nicht auf der Party aufgetaucht (die übrigens toll war). Aber der bittere Geschmack war da. Vor allem, da trotz aller Nachfrage nicht herauszufinden war, wie sie in die Gästeliste geraten war. Das. Ist. Unheimlich.

Und einer geht noch: Dem intriganten Facebook ist zu verdanken, dass plötzlich Fotos der Klassensprecherin auf meiner Startseite auftauchten. Notting Hill Carnival. Ja, sie war dort. Am selben Tag, gegenüber derselben Kirche, an der auch mein Standort war. Ich hab gleich geschaut, ob ich sie auf meinen Fotos zufällig finde… aber Dämonen sind sicher unfotografierbar.

Nur noch ein paar Tage, und wenn sie dann immer noch allgegenwärtig ist, dann bestell ich den Exorzisten.

Exorzist ist DER Übergang zu Walpurgia. Schon als sie zum ersten Mal durch die Tür stöckelte, kam mir dieser Name für sie in den Sinn. Sie machte gleich einen absolut schrägen Eindruck, obwohl ich nicht mehr beschreiben könnte was es war, das mich so irritiert hat. Vielleicht die rosa geblümte Tagesdecke, die sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Oder das kreisrund aufgetragene Wangenrouge, das ihr etwas scharfkantiges Gesicht irgendwie unecht aussehen ließ. Oder die theatralischen Bewegungen, als sie sich seufzend auf ihren Stuhl fallen ließ und mit spitzen Fingern das Haarband zurechtrückte, das ihre schmutzigblonden Haare zu einer Art Frisur zusammenhielt. Als Vogel würde ich mir diesen Platz zum nisten aussuchen, denn der Blitz schlägt nie zweimal an derselben Stelle ein.

Irgendwie hatte sie etwas von einer alternden Diva, obwohl sie kaum älter als ich zu sein schien.

Walpurgia stellte sich mit ihrer tiefen Stimme als Schauspielerin aus Transsilvanien vor. Glaubt mir, ich war keine Sekunde überrascht, das zu hören.
Im zweiten Satz teilte sie mit, Ahnenforschung betrieben zu haben. Sie stamme von Vlad Dracul persönlich ab. Beim Wort „Dracul“ ließ sie das R rollen wie ein Trommelwirbel und blitzte mit ihren eiskalten Augen blutdurstig in die Runde.

Sogar dem Teacher verschlug es für einen Moment die Sprache. Und die Rumänin räkelte sich wohlig in den stummen, starrenden Blicken der Mitschüler.
Ob sie denn eine bekannte Schauspielerin sei, wollte Graham schließlich wissen.
Walpurgia bejahte mit einem Blick aus Vorwurf und Entrüstung. Ja, sie versteht wirklich was von ihrem Job.

Jeder Einzelne stellte sich mit Namen und Herkunftsland vor. Walpurgia nickte gnädig, bis ich an der Reihe war. „Deutschland?“, fragte sie erstaunt und blinkerte mit den verlängerten Wimpern. „Du siehst aus wie eine Engländerin.“
Ja, Walpurgia. Deswegen mache ich auch einen Englischkurs.
Ich hab es nicht laut ausgesprochen, weil ich für einen kurzen Moment mit der Hackfressentheorie beschäftigt war.

„Ich hab noch nie einen Nazi getroffen.“, meinte Walpurgia dann und betrachtete mich interessiert.
„Ich auch nicht.“, erwiderte ich und hatte keine Ahnung, auf was sie hinaus wollte.
Die Rumänin fand das witzig und lachte heiser.

Thema im Unterricht war gerade „Binominals“. Das sind Benennungen aus zwei Wörtern, die durch eine Konjunktion verbunden sind. Weiß jetzt jeder Bescheid, ne?
Teacher war jedenfalls gerade beim Begriff „prim and proper“ angelangt, als sich Walpurgia wieder zu Wort meldete:
„Die Nazis! Die Nazis sind ganz besonders prim and proper. Sorry!“ Die Entschuldigung und ein hustenähnliches Lachen galt mir.

Das war dann der Punkt, an dem ich sie ein wenig bissig aufgefordert habe, diese Anspielungen zu unterlassen und mir ihr Problem zu schildern. Gleichzeitig setzte ich sie unrettbar auf meine imaginäre Ignor-Liste. Die Klassensprecherin war dort schon viel zu lange viel zu einsam.

„Sorry! Sorry!“ Walpurgia entschuldigte sich vielmals und wedelte beschwichtigend mit den Händen.
Aber gerade, als ich mich kopfschüttelnd wieder den Aufgaben widmen wollte, setzte sie noch eins drauf:

„Gibt es hier noch mehr Nazis, oder bist du die einzige?“

Der monatelange Umgang mit den Kindern hat mich doch ein wenig impulsiv gemacht. Wenn sie zu sehr unverschämt werden, dann gibt es ganz gerne mal ein Aupairbeben. Das tut mir gut, das tut den Kids gut, das schafft Respekt. Und hey, ich bin Furcht einflößend, wenn ich mich aufrege. Ein bißchen wie Gandalf und der Balrog („DU! Kommst nicht VORBEI!“). Nur, dass ich statt eines Zauberstabs dann doch eher meine Hand auf den Tisch donnern lasse.

Im Epizentrum des Aupairbebens stand dieses Mal also eine Schauspielerin aus Transsilvanien, die diesen plötzlichen Ausbruch so gar nicht verstehen konnte und mit ausdruckslosen Augen meinem fuchtelnden Zeigefinger folgte.

Ganz unbritisch unterbrochen wurde ich von Graham, der Walpurgia plötzlich fragte, wie man ihrer Meinung nach die Einwohner Deutschlands denn nenne.
„Nazis“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Äh ja, Walpurgia. Nicht ganz. Hätteste mal nicht die Schule für deine Schauspielkarriere aufgegeben.
Dank des Teachers war die Sache also aufgeklärt. Walpurgia denkt, in England leben die Engländer und in Deutschland die Nazis. Heißen die Bewohner der Walachei eigentlich Vampire?

Ich werde diese nervtötende Rumänin trotzdem nicht von der Ignor-Liste nehmen. Ganz peinlich unberührt hat sie die restliche Unterrichtszeit noch mit jeder Menge haarsträubender Geschichten ausgefüllt, wie der Prophezeihung des Weltuntergangs in 2012 und der Verschwörungstheorie, dass Elvis und Michael Jackson am Leben sind und von den Amerikanern in einer geheimen Parallelwelt versteckt gehalten werden. Und das sei wahr. Sie bekäme sehr oft E-Mails mit den ganzen Fakten, die von der Regierung verschwiegen werden.

Wenn sie bei der nächsten Hausparty auf der Gästeliste steht, dann glaub ich wirklich nicht mehr an Zufälle.

Dienstag, 1. September 2009

Tag 137 - 54-46 was my number

Irgendwie verabschiede ich mich jedes Jahr zum selben Zeitpunkt vom Sommer. 31. August ist Hochsommer, keine Frage. Aber der 1. September ist wie der Startschuss zum Herbst. An dem Tag nimmt man plötzlich die ganzen Anzeichen wahr: Vom Doppeldeckerbus aus hat man gute Sicht auf die Bäume, wo die Kastanien immer reifer werden. Spinnen halten sich in jeder Ecke des Hauses einen Platz zum überwintern frei, wie Liegestuhlbesetzer in der Ferienanlage. Erdbeeren werden im Supermarkt immer teurer. Oh, und die Schule geht nächste Woche wieder los.

Gestern dann mal wieder ein absolutes Highlight in meinem Aupair-Leben: Notting Hill Carnival


Genial! Der Hammer! Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Vielleicht mit der Hintergrundinformation, dass es nach Rio de Janeiro der zweitgrößte Straßenkarneval der Welt ist. Er fand seinen Anfang in den 60er Jahren und galt als Protest der karibischen Einwanderer gegen rassistische Übergriffe. Mit den Jahren wuchs das Ganze zu einem riesigen zweitägigen Festival heran und mittlerweile schieben sich jedes Jahr mal kurz anderthalb Millionen Menschen durch die Straßen.
Wenn ich den Karneval mit einem Wort beschreiben sollte, dann wäre es: BUNT!



Früh morgens machte ich mich mit meinen Special Freak Friends aus Trinidad auf den Weg nach Notting Hill. Mit echten Caribs den Karneval zu erleben, machte irgendwie alles noch ein wenig mehr aufregender. Sie schenkten mir ein T-Shirt mit Landesfarben (das lustigerweise von der WM 2006 in Deutschland stammte, an der die Nationalmannschaft Trinidad und Tobago teilnahm), schwarz-rot-weiß, damit ich auch richtig für die Veranstaltung präpariert war. So nette Leute, ich war schon vor der Abfahrt ganz hin und weg.



Die Stimmung war von Anfang an super. Schon ab der Station London Bridge traf man auf gut gelaunte Karneval-Teilnehmer, die dann in immer größer werdenden Gruppen durch die Gänge der Underground strömten.
Notting Hill war weniger belebt als erwartet, aber es war noch Morgen und würde sich dann gegen Mittag in die totale Straßenverstopfung steigern.



Der erste Eindruck war: Polizei. Ich glaube es gab im restlichen London an diesem Tag keinen einzigen Polizisten mehr. Alle waren scheinbar zum Karneval beordert worden. Nicht nur entlang der Umzugsroute, sogar mit Booten auf dem kleinen Kanal waren sie unterwegs und in einem pausenlos kreisenden Helikopter.

Faszinierenderweise waren die zahlreichen Bobbys aber nicht irgendwie störend, sondern absolut freundlich, hilfsbereit und gesprächig. Ich könnte auch schwören, dass die sich einen gegrinst haben, wenn mal wieder ein Marihuana-Schwaden vorbeiwehte.



Das Festivalgebiet war sehr weitläufig. Allein die Umzugsstrecke betrug fünf Kilometer. In den Straßen dazwischen reihten sich Stände, die Kokosnüsse, Bier, Softdrinks und das beliebte Jerk Chicken verkauften. Die Idiotenhühnchen waren fast schon schwarz gegrillt, aber das muss so. Dazu gab es Reis mit scharfer Soße und Salat. Lecker.


Wir sind fast die ganze Zeit gelaufen. Orientierung hatte ich schon nach kürzester Zeit keine mehr. Die Straßen in Notting Hill sehen sich ziemlich ähnlich. Sehr hohe Reihenhäuser mit bunten Fassaden, und die durch den Film „Notting Hill“ so bekannten farbigen Türen. In fast jedem Vorgarten wurden Getränke angeboten, Maiskolben gegrillt, Trillerpfeifen und Souvenirs verkauft oder einfach nur gechillt.


Auf der Straße selbst wurde man in einem Strom aus Menschen in gemächlichem Tempo mitgeschwemmt. Eigentlich hasse ich Menschenmengen. Es macht mich aggressiv und genervt, wenn ich ständig angerempelt und gestreift werde. Aber das hier hatte nichts mit gestressten Dränglern zu tun. Es waren einfach tausende von fröhlichen Menschen, deren Fortbewegung mehr aus Tanzen als aus Laufen bestand.





In regelmäßigen Abständen kam man an zwei Meter hohen und vier Meter breiten Musikboxen vorbei, deren Bässe einem fast die Luftröhre eindellten. Der Puls passte sich dem Rhythmus an und man war einfach mittendrin und bejubelte die Repräsentanten der karibischen Inseln. Ohne müde zu werden, trotz ohrenbetäubender Dauerbeschallung in der prallen Sonne.

Irgendwann stand ich plötzlich direkt vor den Tänzerinnen in ihren farbenfrohen und aufwändigen, aber irgendwie doch kaum Haut bedeckenden Kostümen. Wow, manche waren vom Rhythmus echt ein wenig sehr mitgerissen. Das war nicht mehr Tanzen, was die dort auf der Straße veranstalteten, sondern Erotik.





In einer Seitenstraße standen wir plötzlich vor einem Jamaicaner mit langen Dreadlocks und Streifenpullover, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er stand direkt vor einem riesigen Plakat, auf dem sein Gesicht neben den bekannten Gläsern mit Reggae Reggae Sauce abgebildet war. Levi Roots! Soßenhersteller, Musiker, Multi-Millionär Levi Roots mit eigener Sendung auf BBC. Knips, Foto. Cheers.


Viel zu früh war Abend. Ich konnte mich kaum mehr trennen vom Karneval und war nach all den Laufkilometern tatsächlich noch froh, dass wir ewig zur nächsten Tube-Station laufen mussten. Infiziert nennt man so was wohl. Ich hätte am liebsten noch die ganze Nacht mit diesen fröhlichen Leuten und der mitreißenden Musik verbracht. Aber so gegen 7 Uhr abends ist Schluss. Irgendwann müssen wohl auch die Müllberge weggeschafft werden. Seit gestern habe ich übrigens vollstes Verständnis für das Dosen- und Flaschenpfand in Deutschland. In Notting Hill hätte man als Leergutsammler mal kurz reich wie Levi werden können. Man klebte bei jedem Schritt mit den Schuhen am Asphalt der Straße, von den ganzen Resten aus weggeworfenen Behältern.

Verdammt, es war ein super Erlebnis! Alles blieb friedlich. Keine Rassistenschweine, keine Aggression, keine Komasäufer, nichts. Jedenfalls soweit ich mitkriegen konnte. Einfach nur Spaß, beneidenswerter Nationalstolz der Caribs, tausend Farben und mitreißende Stimmung. YEAH!


Gestern war ich nicht totzukriegen, aber heute fühle ich doch ein paar Nachwirkungen und lass das für heute alles an Bericht sein, damit ich endlich ins Bett komme. Eigentlich wollte ich euch noch was von der Klassensprecherin reindrücken… na ja, nächstes Mal dann.