Dienstag, 26. Januar 2010

Tag 284 - Finding Nemo

Regen! Endlich! Ich hab mich noch nie so über flüssigen Niederschlag gefreut. Hoffentlich sind wir diesen lästigen Schnee jetzt endgültig los, der am Ende sowieso nur noch die Gehwege rutschig gematscht hat und jede Chance genutzt hat in die Schuhe zu gelangen. Die Züge haben keine Verspätung mehr, und der Ausnahmezustand ist der Normalität gewichen. Alle Leute gehen wieder arbeiten und es werden keine Kinder mehr auf der eingeschneiten Autobahn geboren. Der Nachteil wenn es regnet ist, dass die Draußenaktivitäten eingeschränkt sind… es macht sich am Energieüberschuss der Kids bemerkbar. Ist es normal, dass Geschwister pausenlos prügeln? Vermutlich schon. Jedenfalls ist eine Menge Ablenkung und Beschäftigung gefragt. Letzte Woche wurde das lang ersehnte Stockbett geliefert, das jetzt erst einmal ausführlich bespielt wird. Als Doppeldeckerbus, VaterMutterKind-Etagenwohnung oder Schiff. Mein Lieblingsspiel ist Piraten, obwohl kleiner Sargnagel es immer fertig bringt da auch noch seine geliebten Aliens und Zombies mit einzubauen… wie in alles, das wir spielen. Warum weiß ein 4-jähriger eigentlich was ein Zombie ist? „Weiß doch jeder“, sagt er achselzuckend und wirft wieder Feuerbälle auf angreifende Alien-Haie. Kurz darauf schneidet ihm jemand die Kehle durch, er stirbt und wird zum Zombie. Mit ausgestreckten Armen und verdrehten Augen kommt er dann auf mich zugetorkelt und will mir den Kopf abhacken. Hm, Phantasie ist ja toll, aber geht das nicht etwas unbrutaler? Großer Sargnagel ist das andere Extrem und spielt am liebsten Barbie, MyLittlePony und mit allem, das irgendwie pink ist und/oder glitzert. Prinzessin, Fee, Hello Kitty, Glücksbärchis, Bratz. Dann wiederum bin ich froh, dass kleiner Sargnagel da ein wenig Abwechslung reinbringt. Es ist nicht ganz so einfach, die beiden Interessengebiete miteinander zu verbinden, aber wenn der Superheld-Alien die Glitzer-Prinzessin aus dem Turm des pinken Grauens retten darf, sind alle zufrieden. 

So, dieser Teil des Eintrages ist eigentlich von letzter Woche. Mittlerweile hat sich das Wetter eingependelt und es ist gleichmäßig kalt und trocken. Die Sargnägel haben immer noch Hummeln im Hintern und ich bin schon in Startposition für den Spielplatz, wenn sich die Sonne mal so halbwegs blicken lässt. Sonnig war es dafür am Sonntag, als ich eine andere beliebte Freizeitaktivität der Engländer ausprobiert habe: Angeln Angeln hat für mich bisher bedeutet: Zur Forellenzucht fahren, Maiskörnchen am Haken befestigen, Angel auswerfen, drei Minuten warten, Forelle an Land ziehen, totknüppeln, vom Profi ausnehmen lassen, kochen, essen. Nicht sehr zeitaufwendig, einfach und effektiv. Mein englisches Angelerlebnis unterschied sich gleich von Anfang an darin, dass allein der Köderfisch schon die Größe einer Forelle hatte. „Äh, nach was fischen wir noch mal?“ hab ich ein wenig skeptisch Adam gefragt, mein wandelndes Angel-Lexikon. Die Antwort war Hecht. Gut, ich lernte also wie man auswirft und einholt immer mit dem grusligen Gefühl, dass da gleich ein 15 Kilo Oschi anfangen könnte am Haken zu zerren. Würde ich ins Wasser fallen? Würde ich die Angel loslassen? Hier ein Hebel drücken, Leine festhalten, auswerfen, auf halbem Weg loslassen, Hebel drücken, noch ein Hebel, Kurbeln, vorsichtig sein. Aber die ersten Stunden tat sich nichts. Ja, Stunden! Und irgendwie war’s toll. Absolute Ruhe am idyllisch gelegenen See, ich war schon lange nicht mehr so entspannt. Ab und zu kam ein anderer Angler vorbei, kurz gegrüßt, Smalltalk über das Wetter und die Wassertiefe. Schon was gefangen? Nah! Was mir hier übrigens ganz besonders am Angeln gefällt ist, man tötet den Fisch nicht. Allen ernstes wird der Fisch an Land gezogen, in den Arm genommen wie ein Baby, Beweisfoto geschossen, dann gewogen, alle Haken entfernt und wieder freigelassen. Es gibt wohl nur ein paar wenige Sorten, die behalten werden dürfen. Forelle und Aal, wenn ich es richtig verstanden hab. Im örtlichen Angelladen hab ich ein Fotoalbum gesehen. So ein richtig Dickes mit vergilbten Seiten. Darin ungefähr fünfhundert Aufnahmen von ein und demselben Mann, am Anfang mit mehr Haaren, am Ende mit weniger. In immer derselben Position vor dem Wasser knieend, ein Knie auf dem Boden, eines aufrecht als Stütze für den Fisch, den er auf jedem Bild im Arm hielt. Mal einen fetten silbergrauen Brocken mit Punkten, mal einen langen Hecht mit riesigem Maul, jedes Bild fein säuberlich beschriftet mit Datum und Gewicht des Fangs. Und eigentlich sollte ich hier mein erstes richtiges Angelbild einfügen, wie ich mit einem Hecht ringe, der fast so groß und schwer wie ist wie ich selbst. Er hat das Maul weit aufgerissen und zeigt sein furchterregendes Gebiss und man sieht, dass ich ihn kaum halten kann, aber bezwungen habe, wooohooooo! Naja, man kann ja träumen. Wir hatten kein Glück und packten abends im wundervollen Sonnenuntergang wieder zusammen. Frischluftgesättigt, total entspannt… aber doch ein klitzekleines Bisschen enttäuscht. Nächstes Mal fang ich was! Mein Köder war ganz schön angeknabbert, als wenn Herr Hecht da mal dran probiert hätte. Uaaaah, da ist die Sonne! Ich glaub ich kann heute Nachmittag auf den Spielplatz! Das rettet mich vor Glitzerfee-Klamotten-Bastelarbeit, für die ich einfach etwas zu grobmotorisch bin. Obwohl… das Buch, das großer Sargnagel zu Weihnachten bekommen hat, ist wundervoll. Sie kann aus jeder Menge toll gemustertem Papier nach Schablone oder frei Hand phantasievolle Kleidung entwerfen. Und jetzt kommt gerade raus, wie unglaublich kreativ das Mädchen ist und was für ein gutes Auge für Farben sie hat. Aber hey, ich muss immer diese Winzteilchen ausschneiden, wie unfair! Und wehe, ich verschnippel mich mal aus Versehen. Und kleiner Sargnagel braucht ja auch was zu tun in dieser Zeit. Aber gerade übt er ganz gerne schreiben. Er hat entdeckt, dass er sich mittlerweile mit seinen Dreibuchstabenwörtern prima schriftlich ausdrücken kann. Und so schreibt er mir seitenweise „fat bum“ (Fettarsch) auf alles, was ihm zwischen die Finger kommt. Sind se nicht süß? Was hier so gut riecht ist übrigens mein Irish Stew, das auf dem Herd köchelt. Ich hab schon klein Sargnagels halb gebrülltes, halb geweintes „I don’t like potatoes!“ (Ich mag keine Kartoffeln) im Ohr, aber da tricks ich was.

Mittwoch, 6. Januar 2010

Tag 264 - Are you in the queue?

Das fängt ja gut an!
Kaum hat man den Jahreswechsel überlebt mit dem guten Vorsatz, mehr zu schreiben… und schon steckt man im Krea-tief.
Gerade noch so viele Dinge im Kopf, die man unbedingt loswerden möchte… Dokument geöffnet… Finger auf die Tasten… aber nichts passiert. Der Cursor blinkt geduldig auf dem blendenden Weiß des Bildschirms, setzt sich aber nicht in Bewegung wie er eigentlich sollte, um ein paar Reihen Buchstaben zu hinterlassen. Nichts. Vielleicht ist er kaputt. Blink, blink, blink, geht, geht nicht, geht…

FROHES NEUES JAHR, schreibt er jetzt. Besser als nichts.

Seit genau einer Woche bin ich wieder im Lande. Weihnachten in Deutschland war schön. Es war sehr gut, Familie und langjährige Freunde zu sehen und jede Menge vertrauter Sachen zu essen. Ich hatte einen Weihnachtsdöner von Ali Baba! Und breite Nudeln! Und Spätzle mit Soße!

Es hat ein wenig gedauert, bis ich wirklich angekommen war. Wenn ich spontan angesprochen wurde, antwortete ich grundsätzlich auf Englisch. Meinen Döner wollte ich gedankenlos und gewohnt mit Pfund bezahlen. Überhaupt kam ich mit den Euro- und Centmünzen kaum klar. Faszinierend, wie schnell man so was vergisst. Der Rechtsverkehr brachte mich durcheinander, wenn ich die Straße überqueren wollte. Und plötzlich fällt mir auf, wie unfreundlich die Leute in Deutschland sind. Speziell Verkäuferinnen. Und unhöflich sowieso. Bei Schlecker hab ich etwas für 0,59 € eingekauft und vor dem Bezahlen äußerst höflich um Entschuldigung gebeten, dass ich nur einen 50 Euro Schein habe und damit eventuell Umstände bereiten könnte, was selbstverständlich nicht meine Absicht war… blablabla. Gewinner in der Kategorie „Verkäuferin des Jahres“ war dann die Dame an der Kasse, die mir statt einer Antwort einfach nur den Blick des Todes gab und das Wechselgeld demonstrativ nicht in meine ausgestreckte Hand legte, sondern mit solcher Wucht auf das Band knallte, dass die Münzen in alle Richtungen gesprengt wurden. Ups.

Das Warteschlangen- und Reißverschlussverfahrenphänomen: Die Deutschen können es einfach nicht.
Ich gehe jede Wette ein, dass die Engländer das Reißverschlussverfahren im Straßenverkehr erfunden haben. Ich hab das noch nirgends so flüssig gesehen. Jeder kapiert, was zu tun ist: Wenn zwei Spuren zu einer einzigen zusammengeführt werden, bis zum Ende der endenden Spur fahren, Einordnen.
Nicht wie in Deutschland: Schild zur Kenntnis nehmen „Reißverschluss in 500 Meter“, Augen entsetzt aufreißen, sofort anhalten (ganz wichtig!), in die andere Spur irgendwie reindrücken (zur Not mit Hupe) und damit zwei Fahrspuren mal eben zum Stillstand bringen.

Warteschlangen… es gibt verschiedene Sorten in England und sie funktionieren alle.
Die unsichtbare Warteschlange: Ich gehe zur Bushaltestelle, an der schon ein älterer Herr steht, vertieft in den Fahrplan. Nach ein paar Minuten kommt noch eine Frau angekeucht, gerade noch rechtzeitig bevor der Bus um die Ecke biegt. Der Mann steigt zuerst ein, denn er ist der Erste in der unsichtbaren Warteschlange. His wait. Ich wäre als Nächstes dran, muss aber noch meine Fahrkarte rauskramen. Deswegen gebe ich der Frau ein Zeichen, sie könne vor mir einsteigen. Sie wird sich daraufhin überschwänglich bedanken. Ich hab’s sogar schon erlebt, dass sich jemand beharrlich weigerte vorgelassen zu werden.
Die sichtbare Warteschlange: An Kassen, Schaltern und so weiter. Alle haben den gleichen Abstand zueinander, jeder wartet geduldig, selbst wenn es Jahre dauert. Für gewöhnlich fragt man den Letzten in der Schlange „are you in the queue?“, selbst wenn es offensichtlich ist, dass er in der Schlange steht. Ich hab noch nicht herausgefunden, warum man das macht. Todsünde ist „to jump the queue“... vordrängeln. Macht auch niemand.

Anders wiederum in Deutschland… ich hab noch nie so ein Chaos erlebt wie am Abflughafen. Es gab drei Schalter zum Einchecken. Schön wäre gewesen, wenn es eine einzige Schlange gegeben hätte und sich die jeweils ersten dann an die frei werdenden Schalter verteilt hätten. Nee, es gab VIER Warteschlangen, von denen eine im Nichts endete. Ratet, wo ich war? Die Leute vor mir haben sich dann irgendwo reingedrängelt, aber ich hab’s nicht fertig gebracht und bin genervt wieder zum Ende einer der drei halbwegs funktionierenden Warteschlangen getrottet, wo ich aber auch ständig wieder mal überholt wurde. Kein Anstand!

Wobei ich jetzt aber auch echt genug gelästert und referiert habe, noch kurz ein lustiges Lauscherlebnis, das ich in der Schlange zum Security Check hatte. Hinter mir ein Pärchen, vielleicht Anfang 30.

Er: „Sieh mal Schatz, da steht „Lieber hochschwanger als niederträchtig“, ist das nicht lustig?
Sie: „Haha, in der Tat.“
Er: „Übrigens, ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn du bald hochschwanger wärst. Was hältst du davon?“
Sie: „Hmm, Kinder sind wundervoll, aber doch mit so viel Arbeit und Stress verbunden.
Er: „Ja, das stimmt allerdings. Sie kosten ein Vermögen an Geld und Nerven.“

Kurzes Schweigen

Er: „Oder sollen wir lieber einen Kühlschrank kaufen?“
Sie: „Kühlschrank!“

Ich hab mich fast weggeschmissen vor Lachen, vor allem weil die letzte Antwort von ihr wie aus der Pistole geschossen kam.
Kinder. Ja Kinder. Sargnägel.
Sie sind zurück!
Und was soll ich sagen, ich hab sie doch ziemlich vermisst. Und bisher ist auch alles noch Harmonie. Die letzten zwei Tage war es kalt draußen und im Haus und überall, so dass wir uns stundenlang in mein Bett eingegraben haben mit Süßigkeiten und Büchern.

Seit letzter Nacht schneit es übrigens wieder… ich hab eben einen Anruf aus Surrey bekommen, da sind es schon fast zwanzig Zentimeter und die Schulen geschlossen, die Straßen gesperrt… das übliche. Hier hält es sich mit 2 Zentimetern noch in Grenzen, aber es soll bis Sonntag durchschneien.
Um mal kurz die SUN zu zitieren: „Lord ALP us!“

So, ich geh Kuchen kaufen. Nach der Schule kommt ein Aupair aus der Türkei zu Besuch, die ich auf dem Schulweg „gefunden“ habe. Sie wohnt nur ein paar Straßen weiter. Der Plan ist, die Kinder miteinander anzufreunden und ein Kaffee-Tratschstündchen abzuhalten, während die Sargnägel friedlich und ruhig miteinander spielen. Naja, ruhig wird es eher nicht zugehen.