Irgendwie verabschiede ich mich jedes Jahr zum selben Zeitpunkt vom Sommer. 31. August ist Hochsommer, keine Frage. Aber der 1. September ist wie der Startschuss zum Herbst. An dem Tag nimmt man plötzlich die ganzen Anzeichen wahr: Vom Doppeldeckerbus aus hat man gute Sicht auf die Bäume, wo die Kastanien immer reifer werden. Spinnen halten sich in jeder Ecke des Hauses einen Platz zum überwintern frei, wie Liegestuhlbesetzer in der Ferienanlage. Erdbeeren werden im Supermarkt immer teurer. Oh, und die Schule geht nächste Woche wieder los.
Gestern dann mal wieder ein absolutes Highlight in meinem Aupair-Leben: Notting Hill Carnival
Genial! Der Hammer! Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Vielleicht mit der Hintergrundinformation, dass es nach Rio de Janeiro der zweitgrößte Straßenkarneval der Welt ist. Er fand seinen Anfang in den 60er Jahren und galt als Protest der karibischen Einwanderer gegen rassistische Übergriffe. Mit den Jahren wuchs das Ganze zu einem riesigen zweitägigen Festival heran und mittlerweile schieben sich jedes Jahr mal kurz anderthalb Millionen Menschen durch die Straßen.
Wenn ich den Karneval mit einem Wort beschreiben sollte, dann wäre es: BUNT!
Früh morgens machte ich mich mit meinen Special Freak Friends aus Trinidad auf den Weg nach Notting Hill. Mit echten Caribs den Karneval zu erleben, machte irgendwie alles noch ein wenig mehr aufregender. Sie schenkten mir ein T-Shirt mit Landesfarben (das lustigerweise von der WM 2006 in Deutschland stammte, an der die Nationalmannschaft Trinidad und Tobago teilnahm), schwarz-rot-weiß, damit ich auch richtig für die Veranstaltung präpariert war. So nette Leute, ich war schon vor der Abfahrt ganz hin und weg.
Die Stimmung war von Anfang an super. Schon ab der Station London Bridge traf man auf gut gelaunte Karneval-Teilnehmer, die dann in immer größer werdenden Gruppen durch die Gänge der Underground strömten.
Notting Hill war weniger belebt als erwartet, aber es war noch Morgen und würde sich dann gegen Mittag in die totale Straßenverstopfung steigern.
Der erste Eindruck war: Polizei. Ich glaube es gab im restlichen London an diesem Tag keinen einzigen Polizisten mehr. Alle waren scheinbar zum Karneval beordert worden. Nicht nur entlang der Umzugsroute, sogar mit Booten auf dem kleinen Kanal waren sie unterwegs und in einem pausenlos kreisenden Helikopter.
Faszinierenderweise waren die zahlreichen Bobbys aber nicht irgendwie störend, sondern absolut freundlich, hilfsbereit und gesprächig. Ich könnte auch schwören, dass die sich einen gegrinst haben, wenn mal wieder ein Marihuana-Schwaden vorbeiwehte.
Das Festivalgebiet war sehr weitläufig. Allein die Umzugsstrecke betrug fünf Kilometer. In den Straßen dazwischen reihten sich Stände, die Kokosnüsse, Bier, Softdrinks und das beliebte Jerk Chicken verkauften. Die Idiotenhühnchen waren fast schon schwarz gegrillt, aber das muss so. Dazu gab es Reis mit scharfer Soße und Salat. Lecker.
Wir sind fast die ganze Zeit gelaufen. Orientierung hatte ich schon nach kürzester Zeit keine mehr. Die Straßen in Notting Hill sehen sich ziemlich ähnlich. Sehr hohe Reihenhäuser mit bunten Fassaden, und die durch den Film „Notting Hill“ so bekannten farbigen Türen. In fast jedem Vorgarten wurden Getränke angeboten, Maiskolben gegrillt, Trillerpfeifen und Souvenirs verkauft oder einfach nur gechillt.
Auf der Straße selbst wurde man in einem Strom aus Menschen in gemächlichem Tempo mitgeschwemmt. Eigentlich hasse ich Menschenmengen. Es macht mich aggressiv und genervt, wenn ich ständig angerempelt und gestreift werde. Aber das hier hatte nichts mit gestressten Dränglern zu tun. Es waren einfach tausende von fröhlichen Menschen, deren Fortbewegung mehr aus Tanzen als aus Laufen bestand.
In regelmäßigen Abständen kam man an zwei Meter hohen und vier Meter breiten Musikboxen vorbei, deren Bässe einem fast die Luftröhre eindellten. Der Puls passte sich dem Rhythmus an und man war einfach mittendrin und bejubelte die Repräsentanten der karibischen Inseln. Ohne müde zu werden, trotz ohrenbetäubender Dauerbeschallung in der prallen Sonne.
Irgendwann stand ich plötzlich direkt vor den Tänzerinnen in ihren farbenfrohen und aufwändigen, aber irgendwie doch kaum Haut bedeckenden Kostümen. Wow, manche waren vom Rhythmus echt ein wenig sehr mitgerissen. Das war nicht mehr Tanzen, was die dort auf der Straße veranstalteten, sondern Erotik.
In einer Seitenstraße standen wir plötzlich vor einem Jamaicaner mit langen Dreadlocks und Streifenpullover, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er stand direkt vor einem riesigen Plakat, auf dem sein Gesicht neben den bekannten Gläsern mit Reggae Reggae Sauce abgebildet war. Levi Roots! Soßenhersteller, Musiker, Multi-Millionär Levi Roots mit eigener Sendung auf BBC. Knips, Foto. Cheers.
Viel zu früh war Abend. Ich konnte mich kaum mehr trennen vom Karneval und war nach all den Laufkilometern tatsächlich noch froh, dass wir ewig zur nächsten Tube-Station laufen mussten. Infiziert nennt man so was wohl. Ich hätte am liebsten noch die ganze Nacht mit diesen fröhlichen Leuten und der mitreißenden Musik verbracht. Aber so gegen 7 Uhr abends ist Schluss. Irgendwann müssen wohl auch die Müllberge weggeschafft werden. Seit gestern habe ich übrigens vollstes Verständnis für das Dosen- und Flaschenpfand in Deutschland. In Notting Hill hätte man als Leergutsammler mal kurz reich wie Levi werden können. Man klebte bei jedem Schritt mit den Schuhen am Asphalt der Straße, von den ganzen Resten aus weggeworfenen Behältern.
Verdammt, es war ein super Erlebnis! Alles blieb friedlich. Keine Rassistenschweine, keine Aggression, keine Komasäufer, nichts. Jedenfalls soweit ich mitkriegen konnte. Einfach nur Spaß, beneidenswerter Nationalstolz der Caribs, tausend Farben und mitreißende Stimmung. YEAH!
Gestern war ich nicht totzukriegen, aber heute fühle ich doch ein paar Nachwirkungen und lass das für heute alles an Bericht sein, damit ich endlich ins Bett komme. Eigentlich wollte ich euch noch was von der Klassensprecherin reindrücken… na ja, nächstes Mal dann.
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