Mittwoch, 10. März 2010

Tag 324 - House of Rising Sun

Der Frühling schleicht sich auf Zehenspitzen durch die Dunkelheit, um dann mit einem lauten „Überraschung!“ die große Deckenbeleuchtung anzuschalten. Abrupt werde ich aus meinem Halbschlaf gerissen und blinzle verwirrt. Ist es schon soweit? Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt haben. Und dann sehe ich die Veränderungen: Die kleinen dunkelgrünen Flecken auf der Wiese haben sich in purpurne und gelbe Krokusse verwandelt. Die Vögel machen die wildesten Stimmbandübungen, obwohl es noch nicht einmal sieben Uhr am Morgen ist. Ein rosa Sonnenaufgang wirbelt den Staub in meinem Schlafzimmer auf. Ich strecke mich mit einem letzten Gähnen und fühle mich zum ersten Mal seit langem ganz herrlich ausgeschlafen.

Der Frühling ist da! Der Wind ist zwar immer noch kalt, aber seeluftig und erfrischend. Alles scheint sich über Nacht verändert zu haben. Ich könnte platzen, vor lauter Tatendrang. Auch die Sargnägel sind gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Selbst die fetten Tauben, die immer missmutig auf den Gartenzäunen sitzen und uns auf dem Schulweg beobachten, scheinen jetzt zufriedener auszusehen.
Am Wochenende hab ich eine Sonnenbrille erstanden. So eine große tuffige, mit der ich die Hauptrolle in einem Porno spielen könnte. Ich glaube Tom Cruise hat so eine. Außerdem haben die Kids und ich das Trampolin im Garten eingesprungen und sind somit total auf den Sommer… oder wenigstens den Hochfrühling vorbereitet.
Einige Einheimische tragen ab acht Grad plus Shorts und T-Shirts. Das ist mir dann aber doch noch entschieden zu früh.

Auch die Dienstleister haben das große Frühlingsgeschäft gestartet. Noch ein Unterschied zu Deutschland ist, dass hier alle Nase lang jemand an der Tür klopft. Was in Deutschland die „Schönen guten Tag ich will etwas verkaufen, das Sie ganz sicher nicht brauchen“ - Anrufe sind, das sind hier die Klinkenputzer. Momentan kommen sie alle aus ihren Winterschlaflöchern gekrochen: Baumschneider, Dachreiniger, Fassadenstreicher, Judo-Kursleiter, Anwälte, Gärtner, Fensterputzer und so weiter. Zu jeder Tageszeit lassen sie den Briefkastendeckel klappern oder klopfen an das Milchglasfenster der Haustür. Mein Zustand ist je nach Uhrzeit nicht immer so sehr für die Öffentlichkeit geeignet, deswegen verfluche ich mich jedes Mal, wenn ich doch wieder darauf reinfalle und neugierig die Tür öffne.
Die Firmen schicken selbstverständlich immer ihre Sahneschnitten: Junge attraktive Männer mit schneeweißen Zähnen, die sie sofort wie einstudiert aufblitzen lassen, sobald ich den Türgriff nur berühre. Geblendet muss ich dann erstmal einen Schritt zurücktreten und mir ins Bewusstsein rufen, wie mein Gegenüber mich gerade wahrnimmt. Zerknittertes Gesicht, vielleicht noch Zahnpasta im Mundwinkel, gelbe Putzhandschuhe, zerfledderter Pferdeschwanz, das T-Shirt mit der Aufschrift „I’ve got nothing to wear“, noch mit vollen Backen am Frühstück kauend, zwei verschiedene Socken an den Füßen, und bestimmt ein lästiger Underground-Pickel am Kinn. Glücklicherweise sind diese Leute Profis und lassen sich nach dem ersten Zusammenzucken nichts mehr anmerken. Und es könnte mir auch egal sein, ich sehe sie sowieso nie wieder… aber ich würde doch ganz gerne wenigstens EINMAL etwas souveräner auftreten, als hektisch „Danke, kein Interesse“ zu nuscheln und die Tür so schnell wie möglich zu schließen. Vielleicht hilft es ja, wenn ich ab jetzt die Pornobrille trage, wenn ich an die Tür gehe.

Frühling, Frühling! Nach dem Winterloch sind jetzt wieder jede Menge gute Konzerte angesagt. Am 02. April werde ich „Think Floyd“ sehen, die scheinbar beste Pink Floyd Cover Band EVER. Was gäbe ich darum die wahren Pink Floyd live zu sehen… aber das wird nichts mehr werden, so wie die wegsterben. Bleibt noch Roger Waters, der scheinbar dieses Jahr mit The Wall auf Tour geht… aber es gibt noch keine Daten. Obwohl, eigentlich hab ich es nicht so mit „großen“ Konzerten. Zum einen mal das Kommerzielle… hallo, was sollen diese unverschämt hohen Ticketpreise? Und dann will ich nämlich die Band sehen. Und zwar live und nicht auf der Leinwand. Das heißt, ich muss dazu in die erste Reihe. Oder zumindest in die Dritte (Merke: Stehe niemals in der zweiten Reihe auf einem Heavy Metal Konzert. Die Headbanger in der Ersten werden dir nämlich Kopfhautschuppen, Haarfett und Läuse ins Gesicht schleudern. Und du riechst ganz genau, wer die Haare vor dem Konzert gewaschen hat und wer nicht…) Und für die „aber es geht doch um die Stimmung!“-Schreier: Wenn ich hundert Ocken für ein Konzert hinlege, bei dem ich in Achselhöhlenhöhe in einer Menge stehe, mich nicht bewegen kann und nicht mehr sehe als einen schweißnassen Rücken, der sich an meinem Kopf reibt… dann geht meine Stimmung gewaltig nach unten. Nee, dann kauf ich lieber einen Mitschnitt auf DVD und unterstütze die kleinen aber genialen Bands aus dem Umkreis, bei denen ich für 2 Pfund in der ersten Reihe stehe und nur eine Minute bis zum Klo brauche.



Was gibt es sonst noch Erzählenswertes von der Insel?
Am Wochenende war ich in der Excalibur Prefab Estate in Catford auf einen Kaffee eingeladen. Das ist eine Wohnsiedlung voller Fertighäuser, die nach dem 2. Weltkrieg von deutschen und italienischen Gefangenen mal eben schnell aufgebaut wurden. Die ganze Siedlung mit den 187 Wohn“klötzchen“ erinnert an einen riesigen Campingplatz. Und die Häuser sowieso eher an Wohnwägen ohne Räder. 50 qm Wohnfläche pro Haus mit zwei Schlafzimmern, eigentlich ziemlich schnuckelig. Aber was Schimmel, Zugluft und Heizung angeht sind die schon in einem grausigen Zustand. Eigentlich waren diese Fertighäuser mit den Flachdächern nur als vorübergehende Lösung nach Kriegsende gedacht. 10 Jahre. Höchstens 15. Mittlerweile haben sie aber 60 Jahre auf dem Buckel. Die Zukunft der Häuschen ist ungewiss. Entweder werden sie in den nächsten paar Jahren abgerissen oder saniert und unter Denkmalschutz gestellt.

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