Sonntag, 19. Juli 2009

Tag 93 - Hundert in Sicht

Wir nähern uns der 100!

So, ich melde mich nach Wochen wieder aus dem Mailurlaub zurück. Mailurlaub liest sich wie Mali-Urlaub… und genau so scheint die Temperatur auf der Britischen Insel auch gewesen zu sein. Hier ist absolut Sommer. Am liebsten würde ich mich in diesem tropischen Klima irgendwo platt wie ein Seestern auf den Kellerboden kleben und warten, dass es vorbei geht. Aber diverse Draußenaktivitäten, allein schon der Schulweg, lassen sich nicht vermeiden. Das hat jetzt dazu geführt, dass ich mir die Bräune meines Lebens eingefangen habe. Mehrmals am Tag betrachte ich fasziniert meine Arme, weil sie mir durch die krasse Farbveränderung so fremd geworden sind.

Die Engländer können eigentlich ganz gut mit diesen Temperaturen. Die männlichen Inselbewohner reißen sich bei Andeutung des ersten Sonnenstrahls sofort die T-Shirts vom Leib um stolz ihre Oberkörper spazieren zu führen. Ich schätze mal, manche machen sich morgens nicht einmal die Mühe, sich überhaupt ein Shirt anzuziehen, und verbringen den ganzen Tag nur in Shorts. Manchmal ganz nett anzusehen, der Bauarbeiter-Look... aber beim Einkaufen mag ich es dann doch nicht, in der Schlange an der Kasse direkt vor einem haarigen Rücken zu stehen. Außerdem bin ich genau in Achselhöhlenhöhe, was beim U-Bahn fahren nicht gerade angenehm ist, wenn sich die schwitzenden Shirtlosen direkt neben mir an der Deckenstange festhalten. Bäh.

So, ihr Lieben, wie geht’s euch? Ich weiß, ich hab es furchtbar schleifen lassen mit den Erlebnisberichten. Aber ich bilde mir ein, im letzten Monat eine wichtige Entwicklung durchgemacht zu haben. Da wäre vor allem das Wunder der Sprache. Dachte ich vor ein paar Wochen noch, dass sich überhaupt keine Fortschritte in meinem Sprachschatz bemerkbar machen würden, scheint es jetzt plötzlich über Nacht passiert zu sein. Und das gibt einen so riesigen Motivationsschub, dass ich immer mehr will. Mehr Input! Meeeehr Input! Nummer 5 lebt!

Es kommt jetzt öfter mal vor, dass ich mich abends vor den Fernseher setze und von Alan Carr bis Jimmy Carr die Comedies durchzappe. Ich lache über jeden gelungenen Einzeiler übrigens zweimal… einmal wenn ich ihn sprachlich verstanden habe, und dann noch mal, wenn ich ihn auch inhaltlich kapiert habe. Wow, that’s entertainment!

Auch Lesen bringt weiter. Ich hab die Autorin Dorothy Koomson für mich entdeckt. Sie hat diesen Southeastern Slang in ihren Büchern, der hier in der Gegend zu hören ist.

Der Pub ist mein zweites Zuhause geworden. Mittlerweile bin ich wirklich einer von den Regulars, die mindestens einmal die Woche dort sind. Ich kenne jeden Namen zu jedem Gesicht und es ist eigentlich egal wann ich dort aufkreuze, es ist immer jemand zur Unterhaltung zu finden.

Ab und zu treff ich mich auch mit ein paar College Leuten. Nicht ganz so oft. Es gibt ein paar Leute in der Klasse, mit denen bin ich einfach nicht auf einer Welle. Wir haben nichts gemeinsam, außer dass wir Ausländer sind. Und das reicht mir nicht als Grund, warum ich meine begrenzte Zeit mit ihnen verbringen sollte. Und ich hab auch keine Lust, eine Woche im Voraus Bescheid zu sagen, ob ich an dem und dem Abend mit in den Pub komme, damit man „besser planen kann“. Ich plane nicht. Entweder ich tauche auf, oder eben nicht.

Eine hab ich ja ganz besonders gefressen. Sie ist „die Klassensprecherin“. Natürlich haben wir keinen Klassensprecher, aber wenn, dann wäre sie es. Ihr Lebensraum ist in den Ärschen anderer, in denen sie sich häuslich einrichtet und dann gemütlich steuert. Ich würde nicht sagen, dass sie dumm ist. Aber berechnend und kalkulierend. Sie ist mir nicht geheuer, deswegen meide ich sie.

Die Klassensprecherin organisiert natürlich immer mal wieder gemeinsame Aktivitäten. Hut ab, sie schafft es wirklich, die ungefähr 20 Leute für ihre Ideen zu gewinnen und auch zu versammeln. Allerdings verlaufen diese Abende immer wieder langweilig, weil man sich dann entweder in einem Nachtclub anschreit, weil die Musik zu laut ist um sich zu unterhalten… oder man sitzt in einem Restaurant zwischen Leuten, denen man eigentlich nichts zu sagen hat und lauscht den Ausführungen der Klassensprecherin zu Schlinks „Der Vorleser“, die damit einen irrwitzigen Versuch startet, den Abend intellektuell zu gestalten. Klar. Mit einer Horde vollpubertärer Italiener am Tisch. Doch selbst dafür hat die Klassensprecherin eine Lösung und fasst das Buch kurzerhand mit dem Satz „Junge hat Sex mit einer älteren Frau“ zusammen, womit ihr das Interesse wieder sicher ist. Ja, doch, sie ist unglaublich souverän.

Ich war seit einer Weile nicht mehr bei diesen „Klassentreffen“ dabei, weil mir definitiv der Spaßfaktor daran fehlt, was ich auch immer mehr oder weniger genervt als Begründung angebe. Trotzdem hört die Klassensprecherin nicht auf, mich einzuladen. Ständig habe ich wieder neue Termine und Ideen in meinem Posteingang.

Letzte Woche wurde ich von anderer Seite dann doch überredet, mich mal wieder anzuschließen. Ich hab schon die Augen verdreht, was das wohl wieder geben würde. Tatsächlich, vor dem Treffen schrieb mir jemand ganz entzückt eine SMS, dass die Klassensprecherin verfügt hätte, alle Girrrrrls sollten schöne Kleidchen tragen und die Boyyys feine Hemden, wir gingen nämlich ganzganzganz schick aus und hätten Dinner.

Prima.

Ich hab Stunden damit verbracht, die unkleidchenhaftesten Sachen aus meinem Kleiderschrank zu suchen. Meine in Berlin zugrunde gerichteten Sneakers, schwarze zerschlissene Cargohose (ich liebe sie), schwarzes Tank Top. Als Handtasche mein abgewetzter Seesack. Gun’ Tach Frau Flodder. Immerhin hatte ich ein leichtes Gefühl der Rebellion.

Dann bin ich eine halbe Stunde früher losgefahren und erst noch in meinen Pub, nicht weit vom Treffpunkt. Vollständig nüchtern konnte ich diesen Abend nicht antreten. Während ich mein Snakebite trank, erzählte ich zwei Bekannten die Story. Aus heiterem Himmel beschlossen sie mich zum Klassentreffen zu begleiten um mir Gesellschaft zu leisten und das Ganze ein wenig aufzulockern. Erst fand ich es keine so gute Idee. Matt als Skinhead und Dave als HeavyMetalFreak erscheinen auf den ersten Blick doch ein wenig… ähm… radikal. Aber vielleicht würde mich die Klassensprecherin dann nie wieder einladen!

Mit etwas Verspätung trafen wir beim Mexikaner ein. Der Klassensprecherin im schicken Kleidchen sprangen fast die Augen aus dem Kopf und auch der Rest der Gesellschaft schien ein wenig verunsichert wegen meiner beiden hünenhaften Begleiter.

Wir bestellten Bier. Ich konnte es die ganze Zeit im Kopf der Klassensprecherin arbeiten sehen, dass sie auf der Suche nach Problemlösung war. Ganz offensichtlich war ich in diesem Fall das Problem, weil ich ihre Kompetenz untergrub, indem ich diese Fremkörper in ihre Anhängerschaft schleuste.

Nach dem zweiten Bier, als schon zaghaft die ersten Handshakes zwischen College und Pub ausgetauscht wurden, fand sie den Ausweg. Ich glaube, sie gäbe eine gute Präsidentin ab.

Nachdem sie ein paar Worte mit dem Kellner gewechselt hatte, kam dieser und beharrte darauf, wir müssen etwas zu Essen bestellen oder gehen.

Ziemlich einfache Entscheidung. Den Rest des Abends amüsierte ich mich mit den Freaks auf dem Open Mike Evening im Pub, während mich die Klassensprecherin bestimmt schon gedanklich aus ihrem Mail-Verteiler löschte.

Ich bin gespannt auf Dienstag, ob sie noch irgendeinen Kommentar abgibt.

So, genug gelästert.

Der Alltag hat mich hier richtig fest im Griff und lässt die Tage vorbeifliegen. 93, ach du Scheiße. Ich bin doch gestern erst angekommen! Die Zeit geht so schnell vorbei. Jede Woche ist durchstrukturiert, bringt Arbeit mit sich, lässt mir aber auch genug Freiraum für College, Pub… und mich selbst. Ich fühl mich voller positiver Energie und genieße nach wie vor jede Minute hier. Ganz besonders freu ich mich über das enge Verhältnis zu den Kindern. Die Große hat mich vor ein paar Tagen gefragt, ob ich nicht für immer bei ihnen bleiben könnte. Und auch wenn ich die beiden manchmal auf den Mond schießen könnte… ich hab sie wirklich sehr lieb. Nur mit dem in die Hose kacken könnten sie mal aufhören.

Jetzt sind Sommerferien. Die Kids werden zwei Wochen mit ihrem Vater in den Urlaub fahren, so dass das Haus wahrscheinlich gruslig still sein wird in der Zeit. Aber die kinderfreie Zeit will ich nutzen für einige Ausflüge in die Londoner Umgebung und an die Küste.

Ach ja, und Ines kommt in elf Tagen!

Das wars für heute. Ich fühle mich total aus der Übung, was das Schreiben angeht. Und irgendwie hab ich das Gefühl, ich wollte noch so viel mehr schreiben… aber irgendwie mag es mir gerade nicht mehr einfallen. Die Klassensprecherin hat mich zu sehr beschäftigt.

So lange lass ich euch nicht mehr warten.