Donnerstag, 18. August 2016

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Und wieder einmal hat mein Leben eine neue, leere Seite aufgeschlagen, die es nun zu füllen gilt. Wenn ich einmal zurück blättere sehe ich meinen Umzug nach England. Das Leben als Aupair in einem anderen Land, in dem ich niemanden kannte. Es kostete Überwindung, loszugehen und Freunde zu machen. Alleine im Pub zu sitzen, auf fremde Menschen in einer ungewohnten Sprache zuzugehen, die Eigenschaften und Alltäglichkeiten der englischen Kultur zu lernen. Doch mit Aufgeschlossenheit kommt man weit. Ich wurde bald in die zwielichtige Gemeinschaft im "Pub der Randgruppen und Aussätzigen" aufgenommen, saß jeden Donnerstag Abend auf "meinem" Barhocker am Tresen und lernte Leute und Gepflogenheiten kennen. Mein Englisch wurde besser, damit auch mein Selbstvertrauen, ich bekam einen kleinen ehrenamtlichen Job in einem Charity Shop und verstand mich sehr bald prächtig mit den Tee trinkenden und Keksen essenden Ömchens, ich lernte Gawjus kennen, seine Familie, wir zogen in die Wohnung unter dem Dach, ich fand erst den schlechtesten Job der Welt, gleich danach fiel mir aber mein Traumjob gerade zu in den Schoß, wir verlobten uns zum dreijährigen Jubiläum, heirateten zum fünfjährigen Jubiläum.

Und im verflixten siebten Jahr England, halte ich plötzlich ein winziges Wesen in den Armen, mit spärlich behaartem Kartoffelkopf, und es sieht mich an und verzieht die Mundwinkel zum größten Lächeln, und plötzlich ist alles so unbedeutend und klein, und es fühlt sich so an, als hätte ich  mein Leben lang nur auf diesen Moment gewartet. Auch wenn er mir kurz darauf einen Schwall Formulamilch in den Ausschnitt kotzt.

So magisch wie dieses ganze emotionale Babyzeugs aber auch ist, das mit der leeren Seite ist wahr. Mein Leben wie ich es kannte, existiert nicht mehr. Alle sozialen Kontakte die ich täglich arbeitsbedingt pflegen konnte, sind verschwunden. Wenn alle anderen arbeiten, habe ich "Freizeit" und streife durch die Straßen in der Stadt. Wenn alle anderen abends in den Pub gehen, bin ich Zuhause, bade mein Kind und bringe es ins Bett. Ich fühle mich, als wenn ich mit der Geburt von Voldi wieder in einem fremden Land angekommen bin. Muss die Sprache lernen, neue Freunde machen.

Man kriegt ja langsam Erfahrung in dem Gebiet.

Als Aupair habe ich Baby- und Kleinkindgruppen gemieden wie die Pest. Die Mütter! Wie ein furchteinflößender, mehrköpfiger Drachen füllten sie den Raum aus und sahen mit rauchenden Nüstern auf mich Nichtmutter herab. Ich war ein Eindringling eine Bedrohung. Potentiell männerstehlend mit meiner Jugend, wahrscheinlich kindesmisshandelnd mit meiner Unerfahrenheit. Nirgends habe ich mehr Ablehnung erfahren als in Mamagruppen. Dementsprechend erschien mir der Gedanke an Gruppen teilzunehmen zunächst sehr abwegig.

Aber dann flatterte ein Brief ins Haus vom lokalen Familienzentrum. Bei diesem hatte ich mich nach der Geburt registrieren lassen. Alle paar Wochen kann ich Voldi dort wiegen lassen, und die sogenannten Health Visitors stehen bei Fragen mit Rat und Tat zur Seite. Gut, manchmal können sie auch falsch liegen. "Mein Kind zahnt", erwähnte ich bei einer Wiegung. Die HV lächelte leicht und versicherte mir, dass dies der häufigste Irrglaube aller neuer Eltern wäre. Er sei noch viel zu jung.
Zwei Wochen später hatte Voldi nicht nur einen, sondern zwei Giftzähne.

Jedenfalls, der Brief. Dem Familienzentrum war wohl aufgefallen, dass es im März ungewöhnlich viele Babys gegeben hatte. Daraufhin beschlossen sie alle Märzeltern anzuschreiben und eine Art Selbsthilfegruppe zu gründen. Einmal in der Woche würden für zwei Stunden verschiedene Themen behandelt warden. Von Geburtstrauma über Milchentwöhnung und Zahnpflege. Der Brief war sehr vage, deswegen hatte ich keine Ahnung wie das vonstatten gehen sollte. Ich stellte mir einen etwas unpersönlichen Hörsaal vor in dem langweiliges Zeug vorgetragen warden sollte, und jede Menge brüllender Babys.

Überraschenderweise war es wirklich nett. Ein Stuhlkreis, 15 Mamas mit Baby im selben Alter, in der Mitte des Kreises bunte Decken, Matten, und Spielzeug.
Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass wirklich alle Mütter in dieser Gruppe im selben Boot waren. Erstes Kind, Mutterschaftsurlaub, Leben auf den Kopf gestellt. Das Highlight eines Tages konnte ein Trip zum Supermarkt sein. Wirklich alle waren mehr als aufgeschlossen mit anderen Kontakte aufzubauen, sich auszutauschen und einfach mal mit einer anderen erwachsenen Person zu sprechen. Es wurde sehr schnell beschlossen einen online Gruppenchat zu gründen, jeder schrieb seine Nummer auf, und es war einfach nur nett. Kein mehrköpfiger Drachen, kein Höllenfeuer, keine Rivalitäten. Wir begrüßten uns in der darauf folgenden Woche wie alte Freunde. Tips wurden getauscht, Windeln und Vorschläge für Babygruppen, denen man sich anschließen könnte. Mittlerweile bin ich sehr ausgebucht mit Aktivitäten, und habe mich bereits zweimal mit der selben Mutter zum Mittagessen und Kaffee getroffen. Für nächste Woche haben wir uns auch schon verabredet.

Der Schock saß tief, als Voldi ein frischgebackenes Lördchen war. Gawjus ging den ganzen Tag arbeiten, ich hatte das Baby, und nichts zu tun außer Wäsche machen. Ich wusste nicht, wie ich das Jahr durchstehen sollte. Doch jetzt genieße ich jede Sekunde. Es ist Sommer! Voldi und ich machen jeden Tag worauf wir Lust haben!

Und falls ich mal ein Aupair treffen sollte, in einer dieser Babygruppen, dann werde ich ganz besonders nett sein.