Montag, 31. März 2014

Die alte Leuchte

 
Seit einigen Tagen bekomme ich regelmäßig Panikattacken, sobald ich an die bevorstehende Hochzeit denke. Jedes Mal wenn ich auf dem Sofa sitze habe ich das Gefühl sofort wieder aufspringen zu müssen um irgendetwas hochzeitliches zu tun.

Das Leuchtturmchaos haben wir jetzt mit einem Ortstermin gelöst. Wir sind spontan nach Dungeness gefahren um uns das gute Stück einmal anzusehen und auch um mit der Lighthouse-Lady zu sprechen. Nach der Winterpause war es das erste Mal, dass der Turm wieder für Öffentlichkeit geöffnet war. Schon komisch, dass wir ihn zuvor noch nie besichtigt hatten. Ich wusste vor ganzen Heiratszeug nicht einmal, dass dies möglich war.

Die Lady empfing uns etwas gestresst, aber sehr herzlich. Sie nahm uns zur Seite und drückte uns ein Fotoalbum in die Hand, während sie noch einige Besucher abfertigte.
Das Album enthielt Hochzeitsfotos von Paaren die wie wir den Leuchtturm als Vermählungsort gewählt hatten. Teilweise ziemlich ausgeflippte Leute. Wir kicherten über das Retro-Hipster-Paar, die sich in den wildesten Klamotten das Ja-Wort gegeben hatten. Ein anderes Paar trug glitzernde Bauchtanzkostüme, und wieder ein anderes hatte sich selbst und alle Gäste in Himmelblau eingekleidet.
"Ich glaube das waren 'Gothics'", nickte die Lady eifrig und zeigte auf die Hipster. 
Sie schickte uns auf Wanderschaft im Turm, damit wir einen Eindruck bekommen konnten. Und schon erklommen wir die 169 Stufen nach oben. 




Die Treppe wand sich spiralförmig nach oben, von einigen Ebenen unterbrochen auf denen man sich kurz ausruhen konnte. 





Hier würde unsere Zeremonie stattfinden. Gerade genug Platz für den Registrar und zwei Stühle. Die Gäste müssten sich im Stehen auf der Treppe platzieren, aber hätten somit gute Aussicht auf das Geschehen. 



Wir passierten den "Lens Room" in dem die alten Glaslinsen aufgestellt sind und wie ein Kunstwerk aussehen. Mittlerweile war ich ziemlich außer Atem. 



Die letzten Stufen konnten nur noch als etwas bessere Leiter bezeichnet werden, und dann hatten wir die Spitze erreicht. 



 Durch eine kleine Katzenklappe konnte man ins Freie klettern und die Aussicht genießen. 








Ehrlich, ich konnte den Vertrag gar nicht schnell genug unterschreiben. Was für ein Ort!

Ach ja, ich habe meinen neuen Traumberuf gefunden: Registar. 
Was verdienen denn diese Leute?? Ich hab es gleich in Euros umgerechnet, damit es auch mit der richtigen Dramatik rüber kommt: Diese Person verlangt doch tatsächlich 700 Euro, nur für fünfzehnminütiges, auswendig gelerntes Gelaber. Auch wenn da großzügig berechnet vielleicht zwei ganze Stunden Arbeit drinstecken mit Anfahrt und Papierkram, das macht einen Stundenlohn von 350 Öcken. Was zum Teufel?? Ich bin davon überzeugt, dass dies die berühmte W-Wort Abzocke ist. 

Schwamm drüber. Der Leuchtturm ist gebucht, jetzt die Bestätigung des Registrars abwarten, und dann können wir das Aufgebot bestellen. Das ist die Anmeldung zur Eheschließung beim Standesamt. Natürlich kostet das auch noch eine Gebühr, und dann wird die Nachricht erst einmal zwei Wochen ausgehängt um zu sehen, ob jemand etwas dagegen einzuwenden hat. Diese Prozedur stammt bestimmt noch aus dem Mittelalter, aber was muss das muss. 

So, jetzt könnte eigentlich der ganze Stress abgewickelt sein... wenn doch nur der Rugby-Mensch ans Telefon gehen oder auf meine langsam aber sicher bridezillamäßigen Nachrichten antworten. Ich glaube, ich habe ihn verschreckt. Aber er muss mir doch den Termin bestätigen, verdammt! 

Da steht wohl auch ein persönlicher Besuch an. 

Fortsetzung folgt...



Freitag, 28. März 2014

Hochzeitsklöten II






Direkt neben dem Kernkraftwerk in Dungeness steht ein kleiner, alter Leuchtturm.
Dieser Leuchtturm hat eine Lizenz zum Leute verheiraten.
Danach in diese herzallerliebste Minidampflok steigen und auf eine Portion Fish & Chips mit einem Glas gut gekühlten Cider in den Pub fahren.


So, und genau so möchte ich verheiratet werden.
Wir haben einen Plan.

Ich schrieb eine Email an den Leuchtturm und bekam sofort Antwort von einer netten Dame, die sich um die Heiratsangelegenheiten kümmert. Ein Termin ist reserviert. Noch diesen Sommer können wir Mister und Missus werden.

Mit dem Festival klappt es plötzlich auch, obschon das dreitägige Saufgelager gestrichen ist und die ganze Party Nachmittags anfängt und um Mitternacht endet. Dafür bekommen wir einen ganzen Rugbyclub mit Clubhaus und Spielfeld quasi für einen Spottpreis. Dazu gibt es Live Musik, eine Toilette mit Spülung und gegrillte Hamburger und Würstchen. Und Bier. Viel Bier.

Ist doch ganz einfach, dachte ich. Warum stellen sich zu verheiratende immer so umständlich an? Geht doch alles ratzefatz. Ich war mir zu dem Zeitpunkt sicher, dass ich eine komplette Hochzeit in nur zwei Wochen organisieren könnte. Ein Jahr im Voraus buchen, pah! Wer braucht denn sowas?

Leuchturm im kleinen Kreis morgens, Party mit 200 wilden Railwaychildren abends. Perfekt. 

Aber natürlich ist alles was einfach erscheint immer viel komplizierter als der erste Eindruck vermuten lässt. Ich warte jetzt nämlich schon seit einigen Wochen auf den Papierkram von der Leuchtturmdame, habe bisher aber nichts erhalten.
Jetzt kam heute eine SMS vom Rugbymann, dass der vorgeschlagene Termin doch nicht so ganz passt, weil die neue Rugbysaison wahrscheinlich früher losgeht als angenommen und bla, können wir nicht lieber ein wenig früher?
Urlaub wurde aber schon meinerseits und Gawjusseits eingereicht. Na gut, können wir um eine Woche vorverschieben, aber kann da die Leuchtturmdame auch?
Der Gawjus zweifelt nun am Leuchtturm, weil man ganz nach oben nur zehn Gäste mitnehmen kann. Wir haben aber wahrscheinlich so 15 Gäste.
Es gibt auch die Möglichkeit im ersten Stock mit 30 Gästen JA zu sagen, was mich persönlich nicht stören würde, man kann ja danach immernoch nach oben klettern und zwei drei Fotos schießen, aber ja aber nee, aber ja aber nee.
Die Leuchtturmdame geht nicht ans Telefon.
Der Rugbymann weiß nicht wann die Saison losgeht und auch nicht an welchem Wochenende das große Rugby-Sommerfest stattfindet, das nicht gerade mit unserem Wochenende zusammenfallen sollte.
Der Gawjus weiß nicht ob er frei bekommt.
Meine Schwester kann nicht dabei sein, weil gerade in dieser Woche ihr kleiner Sargnagel schlüpfen wird. (Ich werde TANTE, juhuuuuu!)
Mir fällt ein, dass ich dem Rugbymann gegenüber aus Gewohnheit das W Wort verschwiegen habe. Sollte ihn wohl besser darüber aufklären, dass dies eine Hochzeitsparty wird. 
Wir müssten jetzt dann mal das Aufgebot zur Eheschließung beim örtlichen Standesamt beantragen. Muss mich erstmal einlesen, ob ich da als Deutsche etwas zu beachten habe.

Und die wichtigste Frage: Was soll ich nur anziehen?

Fortsetzung folgt...














Mittwoch, 26. März 2014

Hochzeitsklöten

Ich heirate.

Oder viel mehr: Wir heiraten.
Beschlossene Sache ist das schon seit anderthalb Jahren, nur hat bisher die Motivation gefehlt das in Angriff zu nehmen. Was wollen wir eigentlich? Wo wollen wir eigentlich? Und wie? Mit wem? Zu viele Fragen und Entscheidungen.

Mal dachten wir daran auf eine einsame Insel zu fliegen und uns dort klammheimlich das Ja-Wort zu geben, und dann wieder kam die Idee für ein dreitägiges Privat-Festival mit Live-Bands, Hamburgern, Dixie-Klos und so viel Bier, dass man damit eine Wüste bewässern könnte.
Dann wiederum schwebte uns eine ganz nichtsige Standesamthochzeit vor und danach auf ein Bierchen in den Pub. Und dann dachten wir sogar daran, vielleicht in Deutschland zu heiraten. Und wieder kam der Gedanke vielleicht doch ganz woanders ins Ausland zu gehen. Spätestens dann waren wir wieder beim Festival angelangt. Ein endloser Kreis.

Das Festival hört sich pukka an, näch? Finde ich auch. Also habe ich mich jetzt mal ein wenig an diese Idee herangearbeitet. Im Internet machte ich mich auf der Suche nach einem passenden Gelände. Das stellte sich jedoch schwieriger heraus als gedacht. Sobald man das magische "W" Wort eintippt (Wedding) bekommt man nur sauteuren Kitsch der Marke Traumhochzeit im Grünen geliefert. Das W Wort habe ich sehr schnell weggelassen. Aber auch die Suche nach einer einfachen Wiese mit Stromzugang und vielleicht ein wenig fließend Wasser wollte nicht so ganz hinhauen. Ich hatte ein wenig Email Kontakt hier und da, aber es war einfach nicht so das Wahre.

Das Heiratsding musste auch irgendwie gelöst werden. Irgendein langweilig eingerichtetes Standesamt mit klassischer Warteschleifenmusik vom Band? Abgefertigt werden wie am Fließband während das nächste Paar schon vor der Tür wartete? Urgh.

Wieder kam die Überlegung irgendwohin ins Ausland zu gehen. Aber wohin? Ich finde, dass der Ort für uns beide eine Bedeutung haben sollte. Einen Ort, den wir mit gemeinsamen Stunden verbinden und an den wir immer wieder zurückkehren können. UNSEREN Ort.
Und dann wurde uns klar, dass wir ja tatsächlich einen solchen Ort besitzen. Und dieser befindet sich nirgends anders als auf der schönen Isla Britania. Nur anderthalb Autostunden von London entfernt an der schönen Küste von Kent: Dungeness.






Unzählige Tage und Nächte haben wir schon dort am Strand verbracht. Zu jeder Jahreszeit in jedem Wetter. Wir haben auf dem Kies gesessen, wortlos aufs Meer gestarrt, Muscheln und Treibholz gesucht, Steine wettgeworfen, gezeltet, gegrillt, wir sind den langen Kiesstrand entlang gewandert, haben die Stille genossen, sind vom Wind fast umgeblasen worden, haben Fish & Chips im einzigen Pub gegessen, Sonnenbrand eingefangen, und unzählige Fotos geschossen.

Dungeness ist ein magischer Ort. Wenn abends die Sonne hinter dem stillgelegten Atomkraftwerk untergeht, dann verwandelt sich die so schon geisterhafte Umgebung in eine absolute Stille. Man hört nichts als die Wellen, die das Geräusch von sich bewegenden Kieselsteinen ans Ufer tragen.
Und wenn dann der Nebel aufsteigt, dann glaubt man plötzlich durchsichtige Wesen zu sehen, die auf der dunklen Wasseroberfläche tanzen, während der Leuchtturm mit tiefen Tönen ein Lied dazu spielt.

Dungeness ist unser Ort. 






Fortsetzung folgt...


Sonntag, 23. März 2014

Zahnlos in the Attle

"...Two fat ladies - eightyeight
By itself - number five
All the threes - thirtythree
Four and Seven - fortyseven
Five and Eight - Fiftyeight
By itself - number two
Three and Six - Thirtysix..."

Ohne Unterbrechung tönt die monotone Stimme des Zahlenausrufers durch den Saal. Alle Tische sind belegt, jedoch hört man von den Anwesenden kein Gemurmel, kein Gelächter, keinen Ton. Alle Köpfe sind in Konzentration über einen schmalen Bogen Papier gebeugt und zittrige Hände tappen mit einem dicken Filzstift über die darauf befindlichen Zahlenreihen.

"BINGO!!" Tönt es plötzlich von irgendwo. Und der Bann ist aufgehoben, kurz schwillt eine Welle aufgeregter Stimmen durch die Tischreihen, um einige Sekunden darauf wieder zu verstummen, denn der Zahlenausrufer hat schon wieder angefangen.

"Two lines!"
Five and Four - Fiftyfour
All the Sevens - Seventyseven
By itself - number four
Three and Six - Thirtysix..."

"YES!!!!"

Halb enttäuschtes und halb erleichtertes Aufatmen. Es geht weiter mit Full House und dann ist die erste Runde beendet. Ich stelle meinen Stift - genannt Dabber - auf den Tisch und kann endlich einen Schluck von meinem Bier nehmen. Wow, wo bin ich hier nur gelandet?

Alles fing an mit der harmlosen Planung eines Mädelsabend. "Wie wär's mit Bingo?", fragte Trish, als wir schon sämtliche Bars und Pubs in der Umgebung aufgezählt und als nicht passend befunden hatten. Trish versicherte, sie kenne eine Bingohalle nur eine kurze Fahrt entfernt. Mit günstigen Getränken und Spielspaß. Warum auch nicht?

Gesagt getan, zu viert machten wir uns auf den Weg. 


Der erste Eindruck in der Eingangshalle waren zahlreiche weißhaarige, dauergewellte, zumeist weiblichen Köpfe, die eifrig Kleingeld in blinkenden Spielautomaten versanken. Es dudelte und rasselte und schallte. Eine seriös gekleidete Dame hinter dem Empfangstresen verkaufte uns einen Stapel Papierbögen mit aufgedruckten Nummern. "Um 19 Uhr geht es los", erklärte sie. "Viel Spaß"


Uns schon betraten wir das Tor zu einer unbekannten und wild gemusterten Welt.



Gleich fiel auf, dass die Mehrheit der Anwesenden weiblich war. Das Durchschnittsalter musste grob geschätzt etwa 60 betragen. Auch hier viele dauergewellte Weißköpfchen, ungewaschene Grausträhnchen und traurig schauende Wechseljährige in Jogginghosen. Manche Vierertische waren nur von einer Person belegt, die unbeweglich ins Nichts starrte oder andächtig ihre Bingo Marker aufstellte. 


Wir holen uns an der Bar etwas zu trinken, wählten einen Tisch mit staubigen, violett gepolsterten Klappsitzen und harrten dem, was wohl kommen würde. In Beobachtung vertieft verpassten wir auch sofort die ersten fünf Zahlen. Der Ausrufer kannte keine Gnade. Im Abstand zweier Sekunden rief er die Bingozahlen aus, und wir kamen kaum mit dem Markieren hinterher.

"One line!"
Das bedeutete, dass ein Bingo erreicht war, wenn eine Linie auf dem Nummernblatt vollständig markiert war. Frustriertes Stöhnen ging durch den Raum, wenn jemand schon nach der siebten oder achten Nummer "Bingo!" oder "Yeah!" rief. Aber der Gewinn betrug sowieso nur £10

"Two lines!" 
Auf dem selben Zahlenblatt mussten nun zwei vollständige Reihen markiert sein. Dies dauerte nun ein wenig länger und der Gewinn betrug £20. Manchmal wollten meine Gedanken abschweifen, was mich in Gefahr brachte die ausgerufene Zahl zu verpassen. Mehrmals musste ich mein Gehirn richtig zur Konzentration zwingen. 

"Full House!"
Das war das letzte Spiel auf immernoch demselben Zahlenblatt. Nun mussten alle 15 Zahlen in einem Block markiert sein. Der Gewinner bekam saftige £100 

Wir verpassten auch den Anfang der nächsten Runde und brachten unsere Bögen durcheinander. Welche Farbe war dran? "It'f yellow!" lispelte eine alleinspielende Frau schräg hinter uns. Sie hatte nur einen oberen Schneidezahn und unten schien alles zu fehlen außer den Eckzähnen.
Von Anfang an hatte sie uns beobachtet und als blutige Anfänger enttarnt. Die Zahnlose stellte sich als äußert hilfsbereit heraus und rettete uns ein paar Mal aus der einen oder anderen bingoischen Notlage. Sie schien ein Stammgast zu sein. Einmal schaffte sie es sogar den Zahlenausrufer anzuhalten. Ihr war einer der Bögen verloren gegangen. "Okay", sagte der Ausrufer, "wir fangen erst an, wenn die Dame ihren Bogen hat!" Gleich darauf kam die seriös gekleidete Empfangsdame mit dem gewünschten Blatt angerannt. Die Zahnlose strahlte zahnlos und ich brach in Applaus aus, in den aber niemand einstimmte. Keine Zeit für diesen Quatsch. Der Ausrufer auf seiner Empore hatte schon wieder losgelegt.


Er saß auf einem Stuhl unterhalb der Anzeigetafel und feuerte die Nummern unablässig in sein Mikrofon.

"BINGO!!!" brüllte es plötzlich neben mir. Trish! Sie hatte zwei Reihen und gewann ihre £20. Die Zahnlose gab ihr einen Daumen hoch. Eine Bingo-Assistentin tauchte aus dem Nichts neben unserem Tisch auf und gab Trish einen Gutschein. Sofort ging es weiter. 

Gegen zehn Uhr war alles vorbei. Der Saal leerte sich umgehend. Alle krückstockten, rollstuhlten und schlurften wie eine Schafherde zum Ausgang. 
Das war die deprimierendste Menschenansammlung, die ich jemals gesehen habe. Viele Spieler scheinen Bingo als eine Art lästige Pflicht anzusehen. Man hörte niemanden lachen, keine ausgelassenen Stimmen, trotz der billigen Bar schien nicht einmal jemand betrunken zu sein. 

Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Bingo wirklich einer leichte Abendunterhaltung dient, oder ob die Mehrzahl der Spieler nur auf den großen Gewinn hofft, mit der sich die Rente aufbessern lässt.
Es war ein surreales Erlebnis, das mich im Nachhinein ein wenig schaudern lässt. Diese Halle. Diese Einrichtung. Diese Menschen. 


Wir blieben noch in der Halle sitzen und tranken eine Flasche Wein, die Trish von ihrem Gewinn spendiert hatte. Niemand sonst war da. Die Zahnlose hatte uns noch kurz zugenickt, bevor auch sie sich der Herde anschloss.

Ich frage mich, ob sie am nächsten Tag wieder da sein würde und geduldig auf das große Geld hoffen.



Dienstag, 11. März 2014

Viva Riviera!

Sonny und Cher brachten Bill Murray in "Täglich grüßt das Murmeltier" zur Verzweiflung. Jeden Morgen dudelte der selbe Song aus dem Radio, der ihm gleich schon die Gewissheit gab, dass sich der Murmeltiertag noch einmal wiederholen würde.

Ich hatte in den letzten Wochen ein ähnliches Erlebnis. Jeden Morgen zur Aufwachzeit spielt mein Radiowecker Nirvana. Ich stelle grundsätzlich schiefe Weckzeiten ein (mit Haare waschen auf  ungefähr 5.23 Uhr, ohne Haare waschen um circa 5.58 Uhr). Trotzdem erwischt mich Kurt Cobain jedes Mal. Come as you are, Smells like Teen spirit oder Lithium. Einer der Songs ist es immer. Immer! Mittlerweile sind die Anfangsakkorde von einem dieser Stücke die wirksamste Methode mich aus dem Bett zu kriegen. Lieber aufstehen, als Kurt noch eine Sekunde länger über seine Stimmen im Kopf jammern zu hören.

Dann beginnt der Murmeltiertag. Wir haben den nassesten Winter in der Geschichte nasser Winter, ich arbeite, esse, sehe den Regentropfen dabei zu, wie sie an der Fensterscheibe herunterrinnen und der Schimmelfleck an der Wand über der Treppe immer größer wird. Dann sehe ich vielleicht noch etwas fern und gehe auch schon wieder ins Bett um morgens vom Nirvana der Hölle geweckt zu werden.
Winter. Bäh. Dunkelheit. Nässe.
Jedes Jahr überrascht mich aufs Neue, wie sehr sich die Monate Januar und Februar in die Länge ziehen.

Da hilft eigentlich nur eins: Etwas, worauf man sich freuen kann. Und für eine Weile etwas anderes sehen. Ein paar Tage ans Meer fahren. Das war der Plan. Nicht weit, vielleicht höchstens drei oder vier Fahrstunden um ein wenig Seeluft zu atmen, Fish und Chips zu essen. Trotz Winter. Gummistiefel und wasserdichte Kleidung und lange Unterhosen einpacken. 

Auswahl an Küstenstädten, in denen man sich beregnen lassen kann, gibt es genug.
Ich weiß nicht mehr wie die Wahl auf Weymouth in Dorset fiel. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich englische Urlaubsziele am Meer gegoogelt und das war einer der ersten Treffer. In 2012 haben dort die olympischen Segelwettkämpfe stattgefunden, und die Google Bildersuche ergab, dass Weymouth in einer ziemlich windgeschützten Bucht liegt. Vielleicht würde man ja sogar einen Regenschirm aufspannen können, ohne dass dieser sich sogleich nach außen stülpen würde.
Weymouth war ideal.

Ich buchte ein Zimmer im Riviera Hotel. Einfach nur, weil der Name vielversprechend klang und es billig war. Und dann fuhren wir an einem Dienstag morgen los, Gummistiefel im Kofferraum, und hatten vier Stunden später das Ziel erreicht. Schon auf dem Weg konnten wir die Schönheit des County Dorset erahnen.



Aber als wir nur noch ein paar hundert Meter vom Ziel entfernt waren, mussten wir gleich links ranfahren und den ersten Blick auf das Hotel festhalten.

Blaues Wasser, grünbewachsene Klippen, Sonnenschein und herrliche Ruhe.


Herrliche Ruhe? Am Anfang eher unheimliche Ruhe.
Die letzten paar Meter zum Hotel führten durch einen Ferienort, der sich auf gruselige Weise im Winterschlaf befand. Wir passierten einen von der Seeluft etwas mitgenommenen Vergnügungspark, der komplett leer stand. Nur das Kettenkarussell bewegte sich klirrend etwas im Wind. Ich habe genug Zombiefilme gesehen. Das war gruselig. 
Auch der Hotelparkplatz war wie ausgestorben. "Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?" fragte der Gawjus zweifelnd.

An der Rezeption war dann doch noch jemand am Leben und händigte uns den Zimmerschlüssel aus. Der Kurzurlaub konnte losgehen. Und wir legten richtig los. Noch am selben Tag gab es kaum einen Ort in ganz Weymouth, den wir nicht besuchten. Zunächst zum Strand, eine Gehminute vom Hotel entfernt. Menschenleer.



Dann ins Stadtzentrum an den berühmten Sandstrand. Nur ein paar Leute mit ihren Hunden. Dann fuhren wir zum wahrscheinlich noch berühmteren Chesil Beach, einem 29 Kilometer langen Kiesstrand. Menschenleer.



Wir besuchten die Portland Insel und liefen eine Runde um den Leuchtturm. Menschenleer. Wir gingen zum höchsten Punkt der Halbinsel und schauten auf Weymouth herab. Niemand war dort. Es schien, als ob doch eine Zombieepidemie ausgebrochen wäre. Aber dann wurde mir klar, dass der Grund für die Menschenlosigkeit einfach nur die Jahreszeit war. Alles befand sich ohne den Sommertourismus im Dornröschenschlaf. Stände und Spielarkaden an der Strandpromenade dösten vor sich hin, ich glaubte sogar ein leises Schnarchen vom Souvenirladen zu vernehmen.

Wie herrlich!

Im Frühstücksraum tauchten morgens nur wir beide auf und der Koch bereitete uns zu, was auch immer wir wollten. Abends im Pub waren fünf Einheimische, der Gawjus und ich.
Und der Regenschirm blieb im Kofferraum, denn die Sonne schien.

Wir aßen Muscheln mit Seeblick





Fanden Fossilien am Strand




Beobachteten den Sonnenuntergang

 Und als es irgendwann doch einmal regnete, gingen wir ins Sea Life, wo es - man errät es wahrscheinlich schon - ebenfalls wie ausgestorben war. 





 Das habe ich noch nie erlebt. Sich einmal in einer Touristenattraktion zu bewegen, ohne irgendjemandem auszuweichen, in die Hacken zu treten, oder plärrenden Kindern ausgesetzt zu sein.
Friede auf Erden! Zumindest in Weymouth.

Ich habe mich schon lange nicht mehr so entspannt gefühlt, wie in diesen paar Tagen.
Immer wieder fällt mir auf, dass ich die Ruhe und Einsamkeit erst so richtig zu schätzen weiß, seit ich in einer Millionenstadt lebe. Ich mag diesen Kontrast. Ich bin dankbar für Lärm, Stress, Hektik, Hetzerei, Gequetsche, denn all diese Dinge geben mir die Fähigkeit solche ruhigen Momente voll auszukosten und aufzusaugen. Mit voller Batterie kann ich mich dann wieder ins verrückte London stürzen und mit dem nörgelnden Kurt Cobain auf meinem Nachttisch fertig werden.

Man konnte jedoch erahnen welche Verwandlung Weymouth in den Sommermonaten durchmachen würde. Schon am Freitag Nachmittag ging ein seltsamer Stimmungswandel im Stadtzentrum vor. Alles schien sich auf etwas vorzubereiten. Und am Samstag traf er auch ein: Der Wochenendtourismus.

Zum ersten Mal vernahmen wir Stimmen durch die dünnen Hotelwände. Im Frühstücksraum war plötzlich ein Buffet aufgebaut, und wasserdicht bekleidete, Pullover um den Bauch gebundene, Wanderschuhe tragende Grüppchen saßen kauend an den Tischen.

Trotzdem war genug Platz für alle da.
Wir gingen gerade am immernoch wie ausgestorbenen Chesil Beach spazieren, als uns plötzlich der ganze Müll auffiel, der in Nähe des Wassers herumlag. "Diese Deppen", dachte ich zuerst und beschuldigte die Wochenendtouristen. 



Aber bei genauerem Hinschauen stellte ich fest, dass es sich bei dem Müll um nicht als Zigarettenschachteln handelte. Genau genommen, volle, originalverpackte Zigarettenschachteln mit einem Aufdruck der irgendwie chinesisch aussah.





 Erst dann dämmerte uns, dass dies wohl die verlorene Ladung eines Schiffes war, die nach den Unwettern jetzt so nach und nach in Massen an die Küsten angespült wurde. Wow, da hatte wohl jemand so richtig Pech gehabt. Erst viel später würden wir in der Zeitung lesen, dass insgesamt 14 Tonnen Zigaretten ins Wasser gefallen waren.

So, jetzt noch ein paar mit Instagram Filter manipulierte Fotos zum Ausklingen des Artikels. 







Ich kann Weymouth als englisches Urlaubsziel wirklich nur empfehlen. Vor allem für Kettenraucher. Brauchen sich am Strand nur nach Ziggies zu bücken. Etwas aufgeweicht, aber hey, sind umsonst.

Falls dies jemand liest, der dort einmal vorbei kommen wird, dann muss ich kurz noch eine Restaurantempfehlung loswerden.

Am letzten Abend gönnten wir uns etwas und gingen in ein tolles Seafood-Restaurant. Das Crab House Café ist einfach einzigartig.


Rustikal eingerichtet mit eigener Austerfarm. Jede Auster kommt frisch gepflückt auf den Tisch.


Eine weitere Spezialität ist natürlich die berühmte "Crab". Die Krebse werden mit auf einem Brett serviert und dazu bekommt man einen Hammer, und eine Schürze, damit man sich nicht komplett einsaut.
Als wir ankamen dachte ich erst es wären Handwerker im Haus. Dann wurde mir klar, dass das Hämmern von den Gästen kam, die eifrig auf die gekochten Krustentiere eindroschen um die Scheren zu öffnen. Welch ein Spektakel. Wir entschieden uns doch lieber für den Fang des Tages und bekamen im Kontrast mit der rustikalen Einrichtung geradezu künstlerisch angerichtete Teller mit Bremsspur präsentiert. Die Bremsspur in Form eines zerschmierten Sößchens oder Pürees gibt einem immer Auskunft über die Qualität des Gerichts. Finde ich.


Und es schmeckte himmlisch. Ich schwor mir sofort, dieses Lokal bis an das Ende meines Lebens weiterzuempfehlen. Was ich hiermit auch mache. Crab House Café. Tut es!



So, jetzt muss ich meinen Radiowecker stellen. Bis Morgen, Kurt.