Sonntag, 23. März 2014

Zahnlos in the Attle

"...Two fat ladies - eightyeight
By itself - number five
All the threes - thirtythree
Four and Seven - fortyseven
Five and Eight - Fiftyeight
By itself - number two
Three and Six - Thirtysix..."

Ohne Unterbrechung tönt die monotone Stimme des Zahlenausrufers durch den Saal. Alle Tische sind belegt, jedoch hört man von den Anwesenden kein Gemurmel, kein Gelächter, keinen Ton. Alle Köpfe sind in Konzentration über einen schmalen Bogen Papier gebeugt und zittrige Hände tappen mit einem dicken Filzstift über die darauf befindlichen Zahlenreihen.

"BINGO!!" Tönt es plötzlich von irgendwo. Und der Bann ist aufgehoben, kurz schwillt eine Welle aufgeregter Stimmen durch die Tischreihen, um einige Sekunden darauf wieder zu verstummen, denn der Zahlenausrufer hat schon wieder angefangen.

"Two lines!"
Five and Four - Fiftyfour
All the Sevens - Seventyseven
By itself - number four
Three and Six - Thirtysix..."

"YES!!!!"

Halb enttäuschtes und halb erleichtertes Aufatmen. Es geht weiter mit Full House und dann ist die erste Runde beendet. Ich stelle meinen Stift - genannt Dabber - auf den Tisch und kann endlich einen Schluck von meinem Bier nehmen. Wow, wo bin ich hier nur gelandet?

Alles fing an mit der harmlosen Planung eines Mädelsabend. "Wie wär's mit Bingo?", fragte Trish, als wir schon sämtliche Bars und Pubs in der Umgebung aufgezählt und als nicht passend befunden hatten. Trish versicherte, sie kenne eine Bingohalle nur eine kurze Fahrt entfernt. Mit günstigen Getränken und Spielspaß. Warum auch nicht?

Gesagt getan, zu viert machten wir uns auf den Weg. 


Der erste Eindruck in der Eingangshalle waren zahlreiche weißhaarige, dauergewellte, zumeist weiblichen Köpfe, die eifrig Kleingeld in blinkenden Spielautomaten versanken. Es dudelte und rasselte und schallte. Eine seriös gekleidete Dame hinter dem Empfangstresen verkaufte uns einen Stapel Papierbögen mit aufgedruckten Nummern. "Um 19 Uhr geht es los", erklärte sie. "Viel Spaß"


Uns schon betraten wir das Tor zu einer unbekannten und wild gemusterten Welt.



Gleich fiel auf, dass die Mehrheit der Anwesenden weiblich war. Das Durchschnittsalter musste grob geschätzt etwa 60 betragen. Auch hier viele dauergewellte Weißköpfchen, ungewaschene Grausträhnchen und traurig schauende Wechseljährige in Jogginghosen. Manche Vierertische waren nur von einer Person belegt, die unbeweglich ins Nichts starrte oder andächtig ihre Bingo Marker aufstellte. 


Wir holen uns an der Bar etwas zu trinken, wählten einen Tisch mit staubigen, violett gepolsterten Klappsitzen und harrten dem, was wohl kommen würde. In Beobachtung vertieft verpassten wir auch sofort die ersten fünf Zahlen. Der Ausrufer kannte keine Gnade. Im Abstand zweier Sekunden rief er die Bingozahlen aus, und wir kamen kaum mit dem Markieren hinterher.

"One line!"
Das bedeutete, dass ein Bingo erreicht war, wenn eine Linie auf dem Nummernblatt vollständig markiert war. Frustriertes Stöhnen ging durch den Raum, wenn jemand schon nach der siebten oder achten Nummer "Bingo!" oder "Yeah!" rief. Aber der Gewinn betrug sowieso nur £10

"Two lines!" 
Auf dem selben Zahlenblatt mussten nun zwei vollständige Reihen markiert sein. Dies dauerte nun ein wenig länger und der Gewinn betrug £20. Manchmal wollten meine Gedanken abschweifen, was mich in Gefahr brachte die ausgerufene Zahl zu verpassen. Mehrmals musste ich mein Gehirn richtig zur Konzentration zwingen. 

"Full House!"
Das war das letzte Spiel auf immernoch demselben Zahlenblatt. Nun mussten alle 15 Zahlen in einem Block markiert sein. Der Gewinner bekam saftige £100 

Wir verpassten auch den Anfang der nächsten Runde und brachten unsere Bögen durcheinander. Welche Farbe war dran? "It'f yellow!" lispelte eine alleinspielende Frau schräg hinter uns. Sie hatte nur einen oberen Schneidezahn und unten schien alles zu fehlen außer den Eckzähnen.
Von Anfang an hatte sie uns beobachtet und als blutige Anfänger enttarnt. Die Zahnlose stellte sich als äußert hilfsbereit heraus und rettete uns ein paar Mal aus der einen oder anderen bingoischen Notlage. Sie schien ein Stammgast zu sein. Einmal schaffte sie es sogar den Zahlenausrufer anzuhalten. Ihr war einer der Bögen verloren gegangen. "Okay", sagte der Ausrufer, "wir fangen erst an, wenn die Dame ihren Bogen hat!" Gleich darauf kam die seriös gekleidete Empfangsdame mit dem gewünschten Blatt angerannt. Die Zahnlose strahlte zahnlos und ich brach in Applaus aus, in den aber niemand einstimmte. Keine Zeit für diesen Quatsch. Der Ausrufer auf seiner Empore hatte schon wieder losgelegt.


Er saß auf einem Stuhl unterhalb der Anzeigetafel und feuerte die Nummern unablässig in sein Mikrofon.

"BINGO!!!" brüllte es plötzlich neben mir. Trish! Sie hatte zwei Reihen und gewann ihre £20. Die Zahnlose gab ihr einen Daumen hoch. Eine Bingo-Assistentin tauchte aus dem Nichts neben unserem Tisch auf und gab Trish einen Gutschein. Sofort ging es weiter. 

Gegen zehn Uhr war alles vorbei. Der Saal leerte sich umgehend. Alle krückstockten, rollstuhlten und schlurften wie eine Schafherde zum Ausgang. 
Das war die deprimierendste Menschenansammlung, die ich jemals gesehen habe. Viele Spieler scheinen Bingo als eine Art lästige Pflicht anzusehen. Man hörte niemanden lachen, keine ausgelassenen Stimmen, trotz der billigen Bar schien nicht einmal jemand betrunken zu sein. 

Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Bingo wirklich einer leichte Abendunterhaltung dient, oder ob die Mehrzahl der Spieler nur auf den großen Gewinn hofft, mit der sich die Rente aufbessern lässt.
Es war ein surreales Erlebnis, das mich im Nachhinein ein wenig schaudern lässt. Diese Halle. Diese Einrichtung. Diese Menschen. 


Wir blieben noch in der Halle sitzen und tranken eine Flasche Wein, die Trish von ihrem Gewinn spendiert hatte. Niemand sonst war da. Die Zahnlose hatte uns noch kurz zugenickt, bevor auch sie sich der Herde anschloss.

Ich frage mich, ob sie am nächsten Tag wieder da sein würde und geduldig auf das große Geld hoffen.



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