Samstag, 31. Dezember 2011

Jahresrückblick

Dieses Jahr habe ich England von einer ganz anderen Seite kennen gelernt. Die Magie ist nicht verschwunden, aber sie hat sich verändert. Ich lebe jetzt hier. Ich gehöre zu den Menschen, die ich zu Beginn fasziniert und bewundernd angestarrt habe. Die Stadt, die mir vor zweieinhalb Jahren wie ein fremder Planet erschienen war, ist jetzt mein Wohnort. Die Wohnung unter dem Dach mein Zuhause. Einige der verrückten Freaks aus dem Pub, den ich an Tag 9 betreten und seither quasi nicht mehr verlassen habe, nenne ich meine Freunde. Morgens am Bahnhof bin ich kein Tourist mehr, voller Vorfreude auf dem Weg in die Stadt, ich bin einer der Berufspendler, die sich die Zeitung unter den Arm klemmen und mit kritischem Blick die Zugverspätungen auf der Anzeigetafel studieren.

Ich bin angekommen. Meine Vision hat sich verändert. Ich sehe plötzlich den Dreck in der Straße. Die Risse in den Hauswänden. Ich kann plötzlich die Menschen, denen ich begegne anhand ihrer optischen und charakterischen Erscheinung besser einschätzen und weiß, wem ich lieber aus dem Weg gehe. Ich denke nicht mehr über den Linksverkehr nach, über Bohnen zum Frühstück, oder darüber, dass Sontags alle Geschäfte geöffnet haben. Es ist Normalität. Ich fange an, kleine banale Dinge aus meinem Leben in Deutschland zu vergessen. Mir fällt aus dem Stehgreif nicht mehr ein, wie ein Zehn-Cent-Stück aussieht. Auf welcher Seite überholt wird. Wie sich die Synchronstimmen der Simpsons anhören.

England ist nicht besser als Deutschland. Nicht in der Politik. Nicht in der Wirtschaft. Das Land ist überflutet von Immigranten und es ist schwierig noch Originalität zu finden. Auch hier gibt es stolze 2.64 Millionen Arbeitslose und viele Menschen leben am Existenzminimum. Vor allem die jungen Schulabgänger haben Probleme Arbeit zu finden und wissen nicht, was sie sonst tun könnten. Frustration, Aggression, Langeweile. Gründen Banden und erstechen sich gegenseitig auf offener Straße. Starten die London Riots. Meine Arbeitsstelle wurde sogar evakuiert und alle Leute nach Hause geschickt, weil „DIE RIOTS KOMMEN!“ Tagelang sah es aus wie im Krieg, Geschäfte und Einkaufszentren mit Holzbrettern verriegelt und abgeschottet. Tag und Nacht Sirenen. Und doch konnte die Polizei nur machtlos zusehen, als Scheiben eingeschlagen, Läden geplündert und Gebäude und Fahrzeuge in Brand gesteckt wurden. Hier. Hier! Keinen halben Kilometer von meinem Zuhause entfernt!
Und doch ist England der Ort, an dem ich bleiben möchte. Hier bin ich Zuhause. Hier bin ich einfach nur ICH und fühle mich glücklich. 2011 war ein sehr gutes Jahr für mich. Neue Wohnung, neuer Job, neue Leute, neue Hobbies.

Danke an alle, die hier noch mitlesen – 2011 war nicht unbedingt das schreibstärkste Jahr – aber der Vorsatz für neue Texte ist schon gefasst, und ich freue mich darauf mal wieder richtig in die Tasten hauen zu können. Zu Weihnachten gab es nämlich ein neues Laptop, nachdem mein alterschwacher Krächzkasten immer mehr den Geist aufgab. Wahrscheinlich werde ich es einem Steinzeitmuseum verkaufen können.

Ich wünsche euch allen einen guten Start ins neue Jahr. Habt ihr irgendwelche Vorsätze gefasst?