Sonntag, 30. Januar 2011

Tag 645 - Sein oder Nichtsein

Bis Ende des Monats wollte ich mal wieder etwas Schreibwürdiges erlebt haben. Und vor allem aus dem alltäglichen Kreislauf aus Arbeit – Essen – Schlafen ausbrechen. Man muss dazu nur einfach mal den inneren Schweinehund überwinden und nach Feierabend noch etwas unternehmen, anstatt wie jeden Abend in die jahreszeitenbedingte Fernsehstarre zu verfallen. Ist ja ganz einfach, eigentlich.
Aber die Arbeitswoche zieht sich zäh wie Kaugummi. Ich fühle mich müde. Erschöpft. Genervt. Meine Augen brennen, mein Kopf drückt. Bäh. Donnerstagabend zwinge ich mich, nicht direkt nach Hause zu fahren, sondern im Zug noch eine Station länger sitzen zu bleiben und für auf einen Drink in den Pub zu gehen. Es ist Open Mic und ich war schon seit ein paar Wochen nicht mehr dort gewesen.

Die üblichen Leute waren da, mit und ohne Gitarre, schrieben ihre Namen mit Kreide auf die kleine Tafel und bereiteten sich auf ihre Auftritte vor. Das geht am Besten durch Ölen der Stimmbänder mit Bier. Auch die Leute ohne Stimmbänder tun das. Man erinnere sich an den geheimnisvollen Flötenmann, der immer schweigsam mit seiner Querflöte auftaucht, alle Stücke perfekt begleiten kann, und dann wieder wortlos abrauscht. Ich habe mich immer gefragt, ob er nicht sprechen kann, oder nicht will.
An diesem Donnerstag aber sollte ich es herausfinden. Der alte Flötenmann begrüßte mich nämlich mit einem strahlenden Lächeln und fing an zu reden ohne Punkt und Komma. Er sei Schauspieler, und seine Theatergruppe würde in der nächsten Woche Shakespeare’s Twelfth Night aufführen. Und ob ich nicht kommen wolle, es wären noch Plätze frei.

Theater! Aber ganz sicher würde ich kommen! William Shakespeare in Originalsprache, ein englisches Erlebnis, das man auf keinen Fall auslassen darf. Dazu beschert es zur Abwechslung mal ein wenig Kultur und auch noch die Vollfüllung meiner mir selbst gestellten Herausforderung für ein Abenteuer in diesem Monat.
Leider musste der Gawjus länger arbeiten, und konnte mich nicht begleiten. Aber ich ließ mir davon die Laune nicht verderben. Als ich vor bald zwei Jahren in London angekommen war, bin ich immer alleine drauflos gewandert. Die von Anfang an Leser werden sich erinnern.

Nach Feierabend nehme ich also einen Bus in total ungewohnte Richtung, nach Greenwich. Ich habe noch Zeit bevor das Theater starten soll, so laufe ich noch eine Weile durch die Highstreet. Für einen Mittwochabend ist sehr viel los. Massenhaft junge Leute strömen durch die Gassen und unterhalten sich in vielen verschiedenen Sprachen. Wo kommen nur all die Touristen her? Aber dann ist mir klar, was da los ist: Greenwich hat eine große Universität. Und das sind Studenten. Wahrscheinlich gerade auf dem Weg zum Frühstück. Oh Hilfe. Studenten.
Ich flüchte in den nächsten Pub und bestellte ein Bier.
„Und? Was studierst du so?“ säuselt der Barkeeper. Arrrgh.



Das Theater ist eigentlich ein kleiner Comedy Club und sieht von außen schon Viel versprechend aus. Ich bezahle brav 12 Pfund und trete ein. Viele Stühle stehen im Halbkreis um eine kleine Bühne und es ist schon fast alles voll. Nur vorne, in der ersten Reihe sehe ich noch einen Sitzplatz, den ich sofort erobere. Wow, bessere Sicht konnte ich gar nicht kriegen.

„Huhu“ sagt es plötzlich neben mir und ich erkenne zwei Leute von meinem Pub. Auch sie wollen den geheimnisvollen Flötenmann schauspielern sehen.
Er lässt auch nicht lange auf sich warten. Schon nach wenigen Minuten betritt er als der betrunkene Sir Toby Belch die Bühne. Er rülpst und pöbelt und spricht… und überzeugt. Die Rolle passt sehr gut zu ihm.
Das Stück gefällt mir. Es ist eine Verwechslungskomödie nahezu ohne Requisiten. Ich bin fasziniert von der Sprache des 17. Jahrhunderts. „Methinks“ sagen die Charaktere ständig statt „I think“. Eine Menge Wörter habe ich noch nie zuvor gehört, aber ich verliere trotzdem nicht den Faden, weil ich schon vor Tagen nachgelesen hatte, worum es bei dem Stück eigentlich geht.
Viel zu kurze zwei Stunden später ist es dann vorbei. Unter fast nicht enden wollendem Applaus verlassen die Darsteller die Bühne.

Der Flötenmann und ich haben denselben Heimweg. Im Bus rezitiert er mir seinen ganzen Text noch einmal. Inklusive Rülpsern. Die Leute gucken komisch, aber ich find es toll. Den Flötenmann sprechen zu sehen ist immer noch sehr unwirklich.

Es ist spät, als ich Zuhause ankomme. Aber ich bin trotzdem froh den Schweinehund überwunden zu haben.
Am nächsten Tag in der Apotheke bin ich super gut gelaunt und ich schwöre mir, ab jetzt wird alles anders. In Zukunft wird nach Feierabend noch etwas Richtiges unternommen, und nicht in Erwartung auf den Sommer vor dem Fernseher vor sich hin vegetiert. Methinks.

4 Kommentare:

  1. London is cool!

    ;-)

    Centre of the Universe!!

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  2. Wer beschreibt meine Überraschung, dass dieser Post tatsächlich was mit Shakespeare zu tun hat, das war nun wirklich das letzte, was ich erwartet hatte. Jaja, die blöden Studenten. Äh. Der blöde Schweinehund, wollte ich sagen. Es wäre allerdings nicht nötig gewesen, dass du ihn gleich über den Ärmelkanal in meine Wohnung schickst, nächstes Mal kauf ihm doch bitte ein Ticket nach Mogadishu oder so. Ich steuer auch die Kurtaxe bei.

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  3. Ich glaube, sowas erlebt man nur in England ;-)

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  4. Gledwood :-)

    Mich dünkt da spüre ich eine gewisse Antipathie gegenüber Shakespeare, Owyanna? Oh villain, oh villain, smiling damned villain!

    Ich überlege immer, Juliane, ob es wirklich an England liegt, dass ich solche Leute treffe, oder ob ich in Deutschland einfach meine Augen hätte ein wenig mehr öffnen sollen. Oder es ist einfach die Magie des Look-a-Likey-Freak-Pubs.

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