Montag, 19. November 2012

Der Spar-Markt

"Lass lieber alle Türen verriegelt", mahnt der Gawjus noch, bevor er mit seiner Werkzeugtasche um die Ecke verschwindet. Ich drücke einen Knopf und alle Türen des Vans verriegeln automatisch. Durch den Spalt im Fenster dringt kühle Seeluft, und ich lehne mich im Beifahrersitz zurück. Ein seltsamer Ort ist das hier, nahe der Küste. Wie eine Geisterstadt. Alle Gebäude, die ich von meinem Platz aus erspähen kann, sind heruntergekommen und bei näherer Betrachtung geradezu zerstört. Ganze Wohnblöcke stehen leer. Scheiben sind eingeschlagen, Dächer beschädigt. Die Straßen wie leergefegt.

Und inmitten dieses Elends, neben dem, was mal ein Fish & Chips Shop gewesen war, da gibt es einen kleinen SPAR. Wie eine Oase in der Wüste. Wie ein Rettungsboot auf dem sinkenden Schiff. Wie das berühmte Licht am Horizont. Denn wie ich schnell herausfinde, leben hier in dieser gottverlassenen Gegend tatsächlich noch Menschen.

 

Vier Mädels schlendern vorbei. Ich schätze sie auf 13, 14 Jahre. Sie tragen blasspinke Fleece-Jogginganzüge und dicke Stoffstiefel. Die geöffneten Jacken geben Sicht auf ihre grellen Tops. Bauchfrei. Die Bäuche sehen noch richtig kindlich aus. Ihre Frisuren sind zu Vogelnestern gewickelt und irgendwie mitten auf dem Kopf befestigt. Eine schiebt den obligatorischen Kinderwagen. Darin sitzt ein kleiner Junge, gerade im Lauf-Alter mit blonden Haaren und wässrig blauen Augen. Er sabbert und sieht erstaunt aus. Als wenn er sich darüber wundern würde, wie er nur in dieser seltsamen Welt landen konnte. In seiner kleinen dicken Faust hält er ein Handy, aus dem laute Rapmusik schallt. 
Die Mädels verschwinden im Spar.

Zwei Jungs auf Skateboards nähern sich. Sie scheinen im selben Alter wie die Mädchen zu sein. Einer trägt einen Fußball unter dem Arm. Beim Spar angekommen, springen sie von ihren Boards und fangen an den Ball gegen Lous Fishbar zu kicken. Der Aufprall des Balls auf dem Blech schallt durch den Nachmittag. 

Eine Verkäuferin kommt aus dem Spar-Markt gelaufen. "Stop it Ryan!" brüllt sie. Ihre dunklen Haare sind strähnig, und sie hustet krächzend. 
"Shut up, Mum!" meint Ryan nur, und kickt weiter den Ball gegen das Blech. Sein Kumpel lacht. Die Mutter zündet sich eine Zigarette an und lehnt sich erschöft gegen die Hauswand.

Die Mädels sind auch wieder aufgetaucht. Das Kind hat jetzt eine Tüte Kartoffelchips und stopft mit jedem Chip gleich die ganze Faust in den Mund. Die Mädels nehmen Kurs auf die Jungen. Wiegen ihre nicht vorhandenen Hüften hin und her, und wackeln mit den Köpfen.

Ryan kickt den Ball gegen den Kinderwagen. Der kleine Junge kaut ungerührt seine Chips. Seine Teenie-Mutter brüllt eine Obszönität. Ryan lacht. 

Die Verkäuferin lässt ihre Zigarette auf den Boden fallen, wischt ihre Hände am T-Shirt mit Spar-Aufdruck ab und geht hustend wieder in den Laden. Die Mädels verschwinden.

Ein altes Mütterchen steuert auf den Supermarkt zu. Ihr Rücken ist gekrümmt, die Knochen zerfressen, wahrscheinlich Osteoporose. Sie läuft langsam und trägt einen für die Jahreszeit viel zu warmen Mantel. Immer wieder bleibt sie stehen um zu verschnaufen, und stellt ihre Augen auf die Umgebung scharf.

Ryan kickt den Ball gegen die alte Frau. Er trifft ihren Arm. Als ihr die Einkaufstasche entgleitet, ertönt ein lautes "Oi!!! You!!!" von der anderen Straßenseite. Ein Skinhead kommt angelaufen. Er ist fast so breit wie hoch, sein Oberkörper von jahrelangem Gewichtheben aufgepumpt. Seine tattowierten Arme stehen durch die dicken Bizepse vom Körper ab und machen eine rudernde Bewegung, als er sich schwerfällig nähert. Unter seinem rechten Auge ist eine Träne eintattowiert. Auf seinem Hals eine Schwalbe.

"Fuck!" rufen Ryan und sein Kumpel und springen auf ihre Skateboards. Doch dann erinnern sie sich an den Ball. Ryan läuft noch einmal zurück, krallt sich den Fußball, der nicht weit von der alten Frau entfernt liegt, und schon will er wieder auf das Board springen. Doch der Skinhead hat den Jungen erreicht und packt ihn am Kragen seines T-Shirts. Er zieht ihn gefährlich nahe an sein rundes, gerötetes Gesicht und spricht mit leiser und warnender Stimme. Das Wort "Respekt" kommt darin vor. Ryan zieht eine Grimasse und nickt. Als der Skinhead los lässt, dreht sich Ryan zu der alten Frau und entschuldigt sich flappsig. Sie sieht aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Ryan trollt sich. Der Skinhead hebt die Stofftasche auf. "Sorry darling" sagt er, und hakt sich bei dem Mütterchen unter. Zusammen laufen sie zum Sparmarkt. In ihrer Geschwindigkeit. Er muss sich bücken, weil sie so klein ist. Als sie am Van vorbeilaufen, sehe ich die Tattoos auf seinem Arm. Fünf Namen stehen untereinander. Einer davon ist Ryan.

Der Gawjus wirft seine Werkzeugtasche in den Laderaum. Wir fahren und lassen die Geisterstadt und den Sparmarkt zurück. Ich frage mich, wie Ryans Zukunft aussieht. 



3 Kommentare:

  1. Hmmm... schön beschrieben! Der erste Teil könnte glatt aus "Little Britain" stammen, der zweite Teil vielleicht eher aus einem Ken-Loach-Film ;-)

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  2. Danke :-) Glaube nicht, dass ich jemals einen Ken-Loach-Film gesehen habe. Kannst du einen empfehlen? Little Britain... ja, manche Sachen sind wirklich genau aus dem britischen Leben gegriffen. Hier gibt es Horden von Vicky Pollards, die mit ihren Buggys die Highstreet auf- und abmarschieren. Yeah but no but!

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  3. Und doch gibt es in all dieser Trostlosigkeit ein bisschen Menschlichkeit - von einer Seite, von der man es nicht erwartet hätte.

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