Donnerstag, 17. September 2009

Tag 153 - Chicken Shack

Fünf Monate. Das mit dem Linksverkehr klappt jetzt auch. Okay, Theorie sitzt zumindest. Höchstwahrscheinlich werde ich hier doch nicht überfahren, weil ich jetzt endlich zuerst erst nach rechts schaue, wenn ich eine Straße überquere. Die Praxis hatte ich kürzlich, als ich spontan mit Mummys Golf um den Block gefahren bin. Ich bin Rechtshänder. Wie zum Teufel soll ich die Gangschaltung mit der Linken ordentlich bedienen? Die Hand fühlt sich so unflexibel an. Das ist, wie wenn man nach Jahren zum ersten Mal wieder Klavier spielt und die Finger sich nicht mehr wie gewohnt bewegen lassen. Knochenrost, oder so was.

Dann kam noch der Spiegeleffekt dazu: Wo ist Gas, wo ist Kupplung? Müsste das nicht auch seitenverkehrt sein? Nein, eindeutig nicht.

Nach ein paar Runden hatte ich dann aber den Bogen raus. Juhuu, ich fahre. Wagen wieder in die Einfahrt gestellt und mir selbst auf die Schulter geklopft. Als ich dann meine Fahrt noch mal mit dem geistigen Auge durchgegangen bin, ist mir der entscheidende Fehler aufgefallen: Ich bin konsequent rechts gefahren. VERDAMMT! Gegenverkehr kam keiner und die Autos parken hier im Viertel gegen die Fahrtrichtung, warum auch immer. Und so aufs Schalten konzentriert bin ich sofort ins gewohnte Muster verfallen. Gnaa. Nächstes Mal dann.

Einen Sprachschub gab es in den letzten Wochen auch noch. Sogar Graham, mein nie lobender Teacher hat sich beeindruckt geäußert… äh ja, und auch die Neue. Sie ist echt eine Erwähnung wert. Hier ist wöchentlich Kommen und Gehen von Leuten aus der ganzen Welt… man stellt sich gegenseitig vor, geht mal einen Kaffee trinken, plaudert über dies und das, bis man sich nach ein paar Tagen oder Wochen wieder verabschiedet. Mit der gleichgültigen Gewissheit, sich nie wieder über den Weg zu laufen.

Aber manchmal saugen sich einige doch im Gedächtnis fest. Das waren bisher die Klassensprecherin… und Walpurgia.

Bevor ich zu meiner neuesten Bekanntschaft überleite, hier noch kurz die wichtige Info: Achtung, Achtung, die Klassensprecherin reist in weniger als 10 Tagen ab!

Allerdings glaube ich fest daran, dass sie mir in diesem Leben wieder begegnen wird. Irgendwas ist nicht normal mit der. Manchmal überlege ich, ob sie überhaupt existiert, oder ob sie nur ein Dämon ist, der darauf achtet, dass es mir ja nicht zu gut geht.

Wir gehen uns eigentlich ziemlich erfolgreich aus dem Weg: Meine Schultage sind Dienstag und Donnerstag, ihre sind Mittwoch und Freitag. Zu Klassentreffen werde ich nicht mehr eingeladen (Ziel erreicht!). Und trotzdem. Trotzdem taucht sie immer wieder mal hinter mir auf und bohrt mir einen langen, dürren Finger mit künstlichem Nagel in den Rücken. Pieks! Überraschung!

Vor ein paar Wochen wurde ich per Facebook zu einer Hausparty eingeladen. Facebook ist so eine Ja-ja-natürlich-bleiben-wir-in-Kontakt-aber-eigentlich-fick-dich-Alibi-Internet-Kommunikations-Plattform, bei der man sich gegenseitig mitteilen kann, wie viel man am letzten Wochenende gekotzt hat (mit Fotoalbum) und wer diesem Ereignis beigewohnt hat (du bist getagged, harr harr). Aber ganz ehrlich, ich finds toll.

Den Gastgeber dieser Hausparty war in der Friendlist eines Special Freak Friends aus meiner Friendlist zu finden. Ihn kannte ich nicht persönlich, aber ein paar der geladenen Gäste. Mit denen war ich zuvor schon ein paar Mal feiern in einem australischen Pub ganz in der Nähe meines Colleges. Konnte also nur lustig werden.

Aber was musste ich finden, als ich mich durch die endlose Gästeliste klickte? Dämon! SIE! Die Klassensprecherin!

Als mein gequälter Schmerzensschrei dann verklungen war, versuchte ich einen Zusammenhang zwischen ihr und dem Gastgeber herzustellen. Einziger Anhaltspunkt war die Nähe des australischen Pubs zum College. Ich war dort auch schon mit ein paar Collegeleuten gewesen, aber niemals mit der Klassensprecherin. Was zum Teufel? Ist die Welt so klein?

Ich will es nicht unnötig in die Länge ziehen: Die Klassensprecherin ist nicht auf der Party aufgetaucht (die übrigens toll war). Aber der bittere Geschmack war da. Vor allem, da trotz aller Nachfrage nicht herauszufinden war, wie sie in die Gästeliste geraten war. Das. Ist. Unheimlich.

Und einer geht noch: Dem intriganten Facebook ist zu verdanken, dass plötzlich Fotos der Klassensprecherin auf meiner Startseite auftauchten. Notting Hill Carnival. Ja, sie war dort. Am selben Tag, gegenüber derselben Kirche, an der auch mein Standort war. Ich hab gleich geschaut, ob ich sie auf meinen Fotos zufällig finde… aber Dämonen sind sicher unfotografierbar.

Nur noch ein paar Tage, und wenn sie dann immer noch allgegenwärtig ist, dann bestell ich den Exorzisten.

Exorzist ist DER Übergang zu Walpurgia. Schon als sie zum ersten Mal durch die Tür stöckelte, kam mir dieser Name für sie in den Sinn. Sie machte gleich einen absolut schrägen Eindruck, obwohl ich nicht mehr beschreiben könnte was es war, das mich so irritiert hat. Vielleicht die rosa geblümte Tagesdecke, die sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Oder das kreisrund aufgetragene Wangenrouge, das ihr etwas scharfkantiges Gesicht irgendwie unecht aussehen ließ. Oder die theatralischen Bewegungen, als sie sich seufzend auf ihren Stuhl fallen ließ und mit spitzen Fingern das Haarband zurechtrückte, das ihre schmutzigblonden Haare zu einer Art Frisur zusammenhielt. Als Vogel würde ich mir diesen Platz zum nisten aussuchen, denn der Blitz schlägt nie zweimal an derselben Stelle ein.

Irgendwie hatte sie etwas von einer alternden Diva, obwohl sie kaum älter als ich zu sein schien.

Walpurgia stellte sich mit ihrer tiefen Stimme als Schauspielerin aus Transsilvanien vor. Glaubt mir, ich war keine Sekunde überrascht, das zu hören.
Im zweiten Satz teilte sie mit, Ahnenforschung betrieben zu haben. Sie stamme von Vlad Dracul persönlich ab. Beim Wort „Dracul“ ließ sie das R rollen wie ein Trommelwirbel und blitzte mit ihren eiskalten Augen blutdurstig in die Runde.

Sogar dem Teacher verschlug es für einen Moment die Sprache. Und die Rumänin räkelte sich wohlig in den stummen, starrenden Blicken der Mitschüler.
Ob sie denn eine bekannte Schauspielerin sei, wollte Graham schließlich wissen.
Walpurgia bejahte mit einem Blick aus Vorwurf und Entrüstung. Ja, sie versteht wirklich was von ihrem Job.

Jeder Einzelne stellte sich mit Namen und Herkunftsland vor. Walpurgia nickte gnädig, bis ich an der Reihe war. „Deutschland?“, fragte sie erstaunt und blinkerte mit den verlängerten Wimpern. „Du siehst aus wie eine Engländerin.“
Ja, Walpurgia. Deswegen mache ich auch einen Englischkurs.
Ich hab es nicht laut ausgesprochen, weil ich für einen kurzen Moment mit der Hackfressentheorie beschäftigt war.

„Ich hab noch nie einen Nazi getroffen.“, meinte Walpurgia dann und betrachtete mich interessiert.
„Ich auch nicht.“, erwiderte ich und hatte keine Ahnung, auf was sie hinaus wollte.
Die Rumänin fand das witzig und lachte heiser.

Thema im Unterricht war gerade „Binominals“. Das sind Benennungen aus zwei Wörtern, die durch eine Konjunktion verbunden sind. Weiß jetzt jeder Bescheid, ne?
Teacher war jedenfalls gerade beim Begriff „prim and proper“ angelangt, als sich Walpurgia wieder zu Wort meldete:
„Die Nazis! Die Nazis sind ganz besonders prim and proper. Sorry!“ Die Entschuldigung und ein hustenähnliches Lachen galt mir.

Das war dann der Punkt, an dem ich sie ein wenig bissig aufgefordert habe, diese Anspielungen zu unterlassen und mir ihr Problem zu schildern. Gleichzeitig setzte ich sie unrettbar auf meine imaginäre Ignor-Liste. Die Klassensprecherin war dort schon viel zu lange viel zu einsam.

„Sorry! Sorry!“ Walpurgia entschuldigte sich vielmals und wedelte beschwichtigend mit den Händen.
Aber gerade, als ich mich kopfschüttelnd wieder den Aufgaben widmen wollte, setzte sie noch eins drauf:

„Gibt es hier noch mehr Nazis, oder bist du die einzige?“

Der monatelange Umgang mit den Kindern hat mich doch ein wenig impulsiv gemacht. Wenn sie zu sehr unverschämt werden, dann gibt es ganz gerne mal ein Aupairbeben. Das tut mir gut, das tut den Kids gut, das schafft Respekt. Und hey, ich bin Furcht einflößend, wenn ich mich aufrege. Ein bißchen wie Gandalf und der Balrog („DU! Kommst nicht VORBEI!“). Nur, dass ich statt eines Zauberstabs dann doch eher meine Hand auf den Tisch donnern lasse.

Im Epizentrum des Aupairbebens stand dieses Mal also eine Schauspielerin aus Transsilvanien, die diesen plötzlichen Ausbruch so gar nicht verstehen konnte und mit ausdruckslosen Augen meinem fuchtelnden Zeigefinger folgte.

Ganz unbritisch unterbrochen wurde ich von Graham, der Walpurgia plötzlich fragte, wie man ihrer Meinung nach die Einwohner Deutschlands denn nenne.
„Nazis“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Äh ja, Walpurgia. Nicht ganz. Hätteste mal nicht die Schule für deine Schauspielkarriere aufgegeben.
Dank des Teachers war die Sache also aufgeklärt. Walpurgia denkt, in England leben die Engländer und in Deutschland die Nazis. Heißen die Bewohner der Walachei eigentlich Vampire?

Ich werde diese nervtötende Rumänin trotzdem nicht von der Ignor-Liste nehmen. Ganz peinlich unberührt hat sie die restliche Unterrichtszeit noch mit jeder Menge haarsträubender Geschichten ausgefüllt, wie der Prophezeihung des Weltuntergangs in 2012 und der Verschwörungstheorie, dass Elvis und Michael Jackson am Leben sind und von den Amerikanern in einer geheimen Parallelwelt versteckt gehalten werden. Und das sei wahr. Sie bekäme sehr oft E-Mails mit den ganzen Fakten, die von der Regierung verschwiegen werden.

Wenn sie bei der nächsten Hausparty auf der Gästeliste steht, dann glaub ich wirklich nicht mehr an Zufälle.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen