Dienstag, 23. April 2013

Tired of London - tired of life

Zwar lebe ich nur eine kurze Zugfahrt von London City entfernt, aber trotzdem zieht es mich eher selten in die große Stadt. Das liegt zu einem Teil daran, dass mein englischer Freundeskreis aus "Southeast" einfach nicht gerne den Fluss überquert. Nördlich der Themse und südlich der Themse vermischt sich wohl einfach nicht so gut. Zum anderen sind mir in letzter Zeit auch die Ideen ausgegangen, wie ich meinem Gawjus die große Stadt wieder etwas mehr schmackhaft machen könnte. Er begleitet mich nämlich, wenn er etwas geboten bekommt. Einfach so Sonntags in den Zug steigen und gemütlich ohne Ziel an der Southbank herumschlendern (obwohl südlich) ist überhaupt nicht sein Ding.

Aber letztens hatte ich einfach mal wieder Lust auf London. So habe ich unter der Woche abends am Computer recherchiert und uns ein Programm zusammengestellt. Am Samstag ging es los.

Der Stadtteil Shoreditch sollte es sein. Ich habe gelernt, dass ich meine Ziele nicht so weit auseinander legen sollte. Sonst verbringt man den ganzen Tag damit, von einer Gegend in die nächste zu hetzen und das powert aus, aber richtig. Nach einem Tag in London bin ich immer total am Ende. Kriege Pickel, meine Lippen brennen und meine Augen schrumpfen auf die Größe von Erbsen. Ich schiebe es auf die Tube. U-Bahn fahren und durch die langen Gänge von einer Linie zur anderen wechseln, und sich durch den Tumult zu schieben , das macht mich total kaputt. Also entdecke ich London von jetzt an lieber portionsweise als mir wie schon so oft die volle Dröhnung zu geben. Hab ja Zeit, bin ja nicht im Urlaub.

Punkt 1 des Shoreditch Tages brachte uns zunächst nach Bishopsgate. Dort steht der Heron Tower, eines der höchsten Gebäude Londons (vom Shard aber mittlerweile auf Platz drei verdrängt).  Ich wollte unbedingt den gläsernen Express Fahrstuhl in den 40sten Stock ausprobieren. Während ich noch darüber kicherte, dass es nur vier Knöpfe gab, nämlich 0, 38, 39 und 40, schloss sich auch schon die Tür und die Kabine schoss mit Raketengeschwindigkeit nach oben. Mein Bauch hüpfte, während sich die umstehenden Gebäude immer mehr im Boden versenkten und wir in Richtung Himmel aufstiegen. Ich habe den Videobeweis:


 Welch eine fantastische Aussicht! Oben erwartete uns eine moderne Bar mit Glasfenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten. Diese Aussicht! Der Gherkin sah sehr kümmerlich neben/unter uns aus.




 Als uns der Erdboden wieder hatte, wanderten wir in Richtung Old Street, wo uns das nächste Abenteuer erwarten sollte. Ich war im Web auf eine Seite gestoßen, die alternative Touren durch London anbot. Das Alternative daran war, dass die Touren von Obdachlosen geführt wurden. Das klang so schräg, das musste ich einfach ausprobieren.

Tatsächlich, da stand er, von ein paar jungen Leuten umringt, die ihn anstarrten wie ein seltsames Tier im Zoo. Unser Tourguide. Unser Obdachloser.
Was hatten wir erwartet? Einen müffelnden Penner, in Lumpen gekleidet? Das war Henri garantiert nicht. Saubere Jeans, schwarzer Anorak, glatt rasiert, gepflegter Haarschnitt. Aber doch konnte man ihm ansehen, dass er es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt haben muss. Ich konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren.

Wir warer zu zwölft. Eine sehr gute Gruppengröße. Jeder bezahlte £10 und dann ging es auch schon los. "Mir nach!" rief der heimatlose Henri mit holländischem Akzent und marschierte voran. Wir klebten an seinen Fersen und auch seinen Lippen, denn nach zwei Minuten blieb er schon stehen und erzählte etwas über die Old Street U-Bahn Station und wie praktisch dieser Ort zum betteln sei, denn jeder Ausgang gehöre zu einem anderen Bezirk. Wenn die Polizei einen Platzverweis ausspräche, dann würden sich die Bettler eben ein paar Meter zum nächsten Ausgang bewegen, für den eine andere Polizeistelle zuständig war.

Henri erzählte so einiges über das Leben in Londons Straße. Er zeigte uns seinen ehemaligen Schlafplatz, oder sein "Dach", wie er es nannte (nichts weiter als der Überhang eines Betonbrockens) und führte uns durch die Straßen Shorditchs. Unweit der Hauptstraße lag ein Friedhof, auf dem John Bunyan, William Blake und der Robinson Crueso Autor, Daniel Defoe, vergraben liegen. Einfach so, ein historischer Friedhof inmitten des Lärm und Verkehrs.


 Wir spazierten auch an der Kirche vorbei, in der Margaret Thatcher damals heiratete.


Henri war ein wirklich erstklassiger Tourguide und machte es mit viel Witz und Wissen wirklich interessant. Er wusste alles. Manchmal zeigte er auf die unscheinbarsten Gebäude und erzählte mit viel Humor einen historischen Schwank.
Immer wieder traf er Bekannte auf der Straße. Begrüßte jeden im Vorbeilaufen mit Handschlag. Er war eindeutig bekannt in seinem Revier. "Ich kenne hier jeden einzelnen Polizisten", sagte er stolz.  Die Straßen von Shoreditch waren sein Zuhause.
Er hat nicht viel Glück gehabt, Henri. Einst ging es ihm gut. Er studierte Innenarchitektur, hatte großes Interesse an Kunst, gründete eine Familie.
Und dann kamen viele unglückliche Faktoren zusammen, die so weit gingen, dass er auf der Straße landete. Obdachlos. Mittellos. Hoffnungslos.

Henri führte uns in kleine Straßen hinter den alten, gemauerten Fabrikgebäuden. Diese Gassen würde man wohl niemals finden, wenn man alleine unterwegs wäre. Und genau dort sind die besten Verstecke für die unglaublichste Straßenkunst. Wir staunten.







Henri wusste Namen von Künstlern und sagte Sachen wie "oh, das war letzte Woche noch nicht da" oder "hier fehlt ein Stück - wurde geklaut". Er kannte jeden einzelnen Stil und die Geschichte hinter dem Kunstwerk. Was für ein gebildeter Mann das doch ist, dachte ich immer wieder. Und er wird wieder auf die Füße kommen, davon bin ich überzeugt. Er macht jedes Wochenende Touren, 60% vom Erlös darf er behalten, und er hat auch einen kleinen Fabrikjob gefunden. Davon kann er sich mittlerweile die Zimmermiete für ein billiges Bed & Breakfast leisten.

Nach zwei Stunden endete die Tour am Hoxton Square, wo sich jede Menge Leute auf der zertrampelten Wiese tummeln um die Sonnenstrahlen zu genießen. Kein Zutritt für Obdachlose, sagte Henri.

Gawjus und ich gingen mit unserem Tourguide noch ein Bier trinken. Wir saßen und redeten. Hörten noch mehr Geschichten von den Straßen Londons. Die Geschichten unglaublicher Brutalität, wenn irgendwelche Idioten einfach so aus Spaß Obdachlose zusammenschlagen oder sogar töten, weil sie den Kick suchen und ein Pennerleben ja sowieso nichts zählt. Das kommt leider immer öfter vor.
Er erzählte auch von der skurrilen Tatsache, dass Obdachlose mehr Unterstützung kriegen, wenn sie Drogen nehmen oder Alkoholiker wäre. Dafür hat die Regierung nämlich Zeit, da kann ma ja was daran verdienen. Aber Pechvögel wie Henri müssen selbst sehen wie sie klar kommen.
Er berichtete, wie für die Olympischen Spiele die Obdachlosen versteckt wurden, damit London nicht so schäbig aussah.
Schließlich schüttelten wir Hände und gingen jeder unseres Weges. Henri in Richtung Old Street, sein Zuhause, wir in Richtung U-Bahn. Es war spät geworden. London hatte mal wieder voll zugeschlagen und meine Augen waren so klein wie Erbsen.

Dieser Tag hat auf jeden Fall Eindruck hinterlassen. Nie wieder werde ich einen an der Straße sitzenden Bettler mit den selben Augen sehen können. In wievielen steckt ein Henri, der nur auf eine Chance wartet wieder auf die Beine zu kommen?

Ich hoffe, ich kann irgendwie damit helfen, dass ich über diese ungewöhnliche Tour schreibe und sie wärmstens weiter empfehle. Hier ist der Link, falls sich jemand informieren möchte, oder diese alternative Weise London kennenzulernen sogar ausprobieren möchte:






4 Kommentare:

  1. Ich bin kein Typ für Städtetrips. Die machen mich ebenso fertig, wie du es beschrieben hast. Ich brauche mehr Zeit und muss mir das in Ruhe anschauen. ;)

    Aber wenn ich jetzt in London wäre, würde ich sofort eine Tour bei Henri buchen. Das ist wirklich eine geniale Idee, die es wert ist, bekannt gemacht zu werden. Habe gerade einen Kloß im Hals. *räusper* Ich sehe Obdachlose mit anderen Augen, seitdem ich ein Interview mit einem gesehen habe. Unfassbar, wie hart der Alltag auf der Straße ist, aber fast noch trauriger, wie wenig "wert" diese Menschen für viele von uns sind. Irgendwie sagt es eine Menge über eine Gesellschaft aus, wie sie mit den Schwächsetn umgeht...

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  2. Spannend und auch ein bisschen mutig,regt aber auch zum nachdenken an.Hat England viele solcher Projekte zur "Wiedereingliederung"?
    Mein Arbeitgeber hat auch vor einiger Zeit auf ein englisches Konzept,Early Excellence aus Pen Green,umgesattelt.Das ist hier voll im Kommen und hat viele gute Ansätze um neue Chancen für Familien zu ermöglichen.

    In diesen Fahrstuhl würde ich nie im Leben steigen,der geht gar nicht!

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  3. Great - sollte ich mal wieder in London sein, werde ich so eine Tour buchen ... Insiderinformationen und Henry - so und genauso muß man sich informieren ... :-!

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  4. Toll, toll, toll! Das muss ich auch mal machen.

    Auf dem 2. Foto vom Heron Tower sieht man meinen Arbeitsplatz. ;-) Also, das Dach.

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