Freitag, 2. November 2012

Choo Choo, I'm a train!

Commuting. Eines der wichtigsten Worte der arbeitenden Beschäftigten in England. Es ist das Wort, das einen morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause bringt. Ob mit Bus, Bahn, oder Fahrrad, jeden Tag wird hier gependelt was das Zeug hält. Die meisten Menschen, die in London arbeiten, wohnen nicht zwangsläufig dort. Somit ist die Pendeldistanz in England erschreckend weit. Ich habe Leute getroffen, die sind jeden Tag insgesamt vier Stunden unterwegs. Erst ein Bus, dann ein Zug, dann eine U-Bahn, noch ein Bus.... am Abend das Ganze wieder zurück. Da geht es mir gar nicht so übel, ich verlasse das Haus genau anderthalb Stunden vor Arbeitsbeginn und brauche nur zwei Züge und dazwischen etwas Wartezeit. Und einen strammen Fußmarsch zum Bahnhof, den ich abends gerne durch einen Bus ersetze.

Commuter sein ist gar nicht so schlecht. Jedenfalls wenn die Verbindungen gut sind, es keine Verspätungen gibt, die Züge sauber und nicht überfüllt... okay dies ist niemals der Fall. Fast jeden Tag gibt es Signalprobleme, Ausfälle, Verspätungen, lange Züge mit 8 Wagons werden gegen kurze 4-Wagon-Züge ausgetauscht, müssen aber irgendwie dieselbe Menge an Personen fassen... es gibt immer irgendwelche Überraschungen, mit denen man als Berufspendler klar kommen muss.

Trotzdem finde ich gut, dass zwischen Haus verlassen und Arbeitsbeginn ein wenig Zeit liegt, in der man den Übersprung schafft. Einfach gemütlich da sitzen und lesen. Jeden Morgen gibt es an den Bahnhöfen eine kostenlose Zeitung - die Metro.



Sehr unterhaltsam - obwohl sehr trashig. Immer wenn man auf ein Foto stößt, das einen jungen glücklichen Menschen in der Blüte seines Lebens zeigt, dann kann man schon sicher sein, dass der dazugehörige Artikel irgendein furchtbares Schicksal enthüllt. Am Besten sind die Leserbriefe, oder eigentlich nur Leser-Sms, bei denen sich manchmal Diskussionen über mehrere Tage hinziehen. Wenn man dann mal einen Tag ohne Metro hat, verliert man den Faden.

Metro dient allerdings nicht nur dem Lesen. Die Zeitung ist ein wahrer Allrounder. Man kann

- sich gegen übelriechenden Atem gegenübersitzenden Commutern abschirmen.
- Blickkontakt vermeiden.
- so tun, als wenn man in die Zeitung vertieft wäre und so seinen Sitz nicht dieser Frau anbieten muss, bei der schlecht erkennbar ist, ob sie schwanger ist oder einfach nur einen dicken Bauch hat.
- schmutzige Sitze vor dem Hinsetzen abdecken, vor allem wenn man sich nicht sicher ist, ob da wirklich ein Kaugummi klebt oder nur jemand mit den Feuerzeug das Polster angesengt hat
- bei vergessenem Regenschirm einfach die Metro über den Kopf legen.

Jeden Tag zur selben Zeit im selben Zug bringt mit sich, dass man langsam die Leute kennenlernt. Natürlich nicht jeden auf angenehme Weise.

Erst gestern hat sich der Schnarcher auf den Sitz mir gegenüber fallen lassen, fiel sofort in seinen allmorgendlichen Tiefschlaf und schnarchte mir mit jedem Atemzug üblen Morgenatem entgegen. Gleich Zeitung für erstgenannten Punkt verwendet.

Dann gibt es noch Sniffer-Man. Ein notorischer Nasehochzieher. Mit festen Schritten kommt er jeden Morgen angerannt, setzt sich in unmittelbare Nähe und lässt das Schnüffelkonzert starten. Alle paar Sekunden ein nervtötendes Schniefgeräusch, bei dem ich innerlich zusammenzucke. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und meinen Sitzplatz um eine Tür nach hinten verlegt. Dort habe ich jetzt aber die Schminktrulla. Ihre Haare sind jeden Morgen klatschnass. Egal, wie kalt es draußen ist. Sie braucht immer mindestens zwei Sitze. Einen für sich selbst und einen für ihre überdimensionale, koffergroße Handtasche. Aus selbiger zieht sie einen pinken Waschbeutel hervor, und dann kann die allmorgendliche Schminksession auch schon losgehen.
Erst mal Grundierung auftragen und mit so allerlei Püderchen und Cremes eine Basisleinwand schaffen. Es folgen perfekt gerader Lidstrich, Lidschatten und Mascara. So viele Schichten Mascara, dass ihre Wimpern wie tote Spinnenbeine vom Augendeckel abstehen. Danach sind die Haare dran. Brutales Ausbürsten der verknoteten Locken, und Haarüberschuss auf den Boden des Zuges sprinkeln. So jeden zweiten Morgen werden auch noch kurz die Fingernägel gefeilt, und dann sind wir auch schon an der Endstation angekommen.

Schminken. Definitiv auf der Liste der beliebtesten Aktivitäten im Berufsverkehr. Einmal hatte ich jemanden hinter mir sitzen, der im Zug seine Fingernägel geklippst hat. Das war eklig. Ich habe die ganze Zeit gerechnet, dass ich gleich die Nägel durch das ganze Abteil spritzen sehe. Da bin ich schon etwas traumatisiert, seit mir im Bus mal jemand aus Versehen einen künstlichen Fingernagel ins Gesicht geschnippst hat.

Aber dann lernt man einige der lieben Mitpendler dann doch etwas Näher kennen. Man kommt ins Gespräch, meistens durch irgendeine Frechheit der Bahnbetreiber, redet nächstes Mal ein wenig mehr, redet mehr, trifft sich jeden Tag immer im selben Abteil, redet mehr, und dann entsteht so etwas wie eine Pendlerfreundschaft. Wir nennen uns 'Train Buddies'. Andere Pendler schließen sich an - frustriert sein über Verspätungen verbindet - und plötzlich waren wir fünf Leute, alle mit dem selben Zielbahnhof, die sich jeden Morgen gegenseitig aus der Metro vorlasen und von ihren Wochenenden erzählten. Lustig, wie man manchmal Leute kennenlernt. Eines Freitags sind wir alle miteinander ausgegangen, haben auch die nicht zugfahrenden Partner mitgebracht, und so saßen wir da zu zehnt im Pub und haben uns super amüsiert.
Mittlerweile haben drei der Buddies den Job und damit auch die Pendelroute gewechselt, aber wir sind noch in Kontakt - und von einer sogar zur Hochzeit eingeladen!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen